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Der Gedankenleser

Der Gedankenleser

Titel: Der Gedankenleser Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jürgen Domian
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jeden Morgen um die gleiche Zeit in unserer Redaktionskonferenz zu sitzen. Überhaupt - diese Konferenz. Ich schaute in die trüben, müden oder von Ehrgeiz zerfurchten Gesichter meiner Kollegen, hörte dabei die entlarvenden Gedanken der direkt neben mir Sitzenden und konnte es nicht glauben, dass erwachsene Menschen, die um den Tod, das Leid, die Liebe, den Frühling und das Schöne wussten, mit einer derartigen Ernsthaftigkeit über im Grunde belanglose Dinge sprachen. Ja, sie stritten sogar und ereiferten sich heftig.
    Mir war es egal, ob ein Artikel nun auf Seite zwei oder auf Seite drei platziert wurde. Mir war es egal, wer welche Meinung auf der Kommentarseite pointiert oder weniger pointiert zum Besten gegeben hatte. Und mir war es egal, ob unsere Zeitung nun ein neues Layout bekäme - oder eben auch nicht. Einfacher und ehrlicher könnte ich auch sagen: Mir war einfach alles egal. Hatte ich vor meinem Unfall schon eine große Distanz zu den Hauptinhalten meiner Arbeit, also den politischen und gesellschaftlichen Themen, empfunden, so war jetzt aus der Distanz eine Abkehr geworden. Ich hörte die Kollegen über die aktuelle Wirtschaftskrise diskutieren, über Koalitionsgedankenspiele einer Oppositionspartei, über Äußerungen eines Staatssekretärs zu den Auslandseinsätzen der Bundeswehr, über den bevorstehenden Besuch des amerikanischen Präsidenten in Deutschland und so weiter und so weiter ... Und ich? Ich saß da und wusste, dass all dies mit mir nichts mehr zu tun hatte. Sollten sich andere damit beschäftigen. Zumal in mir die Überzeugung gewachsen war, dass achtzig bis neunzig Prozent der täglich über uns hereinbrechenden Informationsflut ohnehin keine Bedeutung hatten. Man konnte gut leben, ohne von diesen Nachrichten zu wissen. Es fehlte einem nichts. Diese Erfahrung hatte ich oft genug gemacht, wenn ich mit Anna auf längeren Reisen in fernen Ländern gewesen war. Ab und zu hörten wir dann die Nachrichten der BBC - und das reichte. So viele Jahre hatte mir diese Erkenntnis nicht zu denken gegeben. Ich nahm sie einfach hin und ließ mich nach der Rückkehr von einer Reise manchmal binnen Stunden wieder von den vermeintlichen Wichtigkeiten des Alltags aufsaugen. Vielleicht wäre das Wort »auffressen« noch treffender gewählt. In den letzten zwei, vielleicht drei Jahren allerdings hatte sich in mir etwas verändert. Ich konnte es nicht genau benennen, ich spürte nur am Ende meines Urlaubs immer häufiger ein Unbehagen, wenn ich an die vor mir liegende Arbeit dachte. Früher hatte ich mich immer darauf gefreut, wieder loslegen und mich einbringen zu können. Diese Freude war mir abhandengekommen. Jetzt erschienen mir die Erinnerungen an meinen Elan, meine Motivation und auch an meinen journalistischen Ehrgeiz wie eine exotische Fiktion. Derjenige, der einst so gedacht und empfunden hatte, war ein anderer Mensch gewesen.
     

    So, wie ich die allmorgendliche Konferenz verabscheute, so verabscheute ich auch die stets gleiche Struktur der Tage. Ich schrieb zwar täglich neue Artikel und beschäftigte mich mit anderen Themen, eigentlich aber war alles immer dasselbe. Um drei Minuten vor sieben klingelte der Wecker, und ich stand auf, um sieben hörte ich die Nachrichten. Währenddessen putzte ich mir die Zähne und rasierte mich. Dann ging ich unter die Dusche, zog mich an, und gegen sieben Uhr fünfundvierzig frühstückte ich im eher trostlos anmutenden Speiseraum meines Hotels. Oft saß ich dort allein. Ich aß immer das Gleiche: zwei Brötchen, eins belegt mit geschmacklosem, kaltem Goudakäse, das andere bestrichen mit, ich nenne es mal so, Industriemarmelade. Denn egal ob Kirsche, Erdbeere oder Johannisbeere auf den kleinen Döschen stand, es schmeckte alles gleich. Dazu trank ich zwei Tassen schwarzen Kaffee und ein Glas Orangensaft. Danach ging ich kurz zurück auf mein Zimmer, um mir ein zweites Mal die Zähne zu putzen, und fuhr anschließend in die Redaktion.
    Punkt neun trafen sich alle am Konferenztisch. Die Arbeit wurde verteilt. Danach telefonierte man, recherchierte, las aufmerksam die Agenturmeldungen und schrieb drauflos. Die Mittagspause fand zwischen halb eins und halb zwei statt. Bis zum Feierabend meistens Hektik und Stress. Alles musste fertig werden. Und in der Regel saß ich kurz nach halb sechs in meinem Auto.
     

    Früher hatte mir der immer gleiche Tagesablauf nichts ausgemacht. Im Gegenteil. Jahrelang war er fester Bestandteil meines Lebens gewesen, und ich hätte

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