Der Gedankenleser
Alterungsprozess schien bei etwa fünfunddreißig Jahren auf wundersame Weise gestoppt zu haben. Mittlerweile war er fünfzig, aber das sah man ihm nicht an. Während einer kleinen Plauderei mit ihm, ich war nach meinem Unfall gerade wieder eine knappe Woche im Dienst, erfuhr ich etwas Ungeahntes.
Wir sprachen über belanglose Dinge, über Fotos, über einen Kinofilm, über sein neues Auto, über das Wetter - und zwischendurch hörte ich immer wieder:
Ich mach es bald. Bald ...
Ich hatte Mühe, den entspannten Smalltalker zu mimen, denn innerlich war ich mit seinen Gedanken beschäftigt.
So wie der, so will ich niemals aussehen.
Dabei schaute er mich eindringlich an. Er meinte offensichtlich mich.
Diese Furchen auf der Stirn. Und diese Falten um die Augen herum.
Du lieber Himmel, ich war keine zwanzig mehr, das wusste ich selbst. Ich hatte aber keinerlei Probleme mit meinem Äußeren. Schon wollte ich das Gespräch beenden, weil ich mich gekränkt fühlte, aber dann siegte doch meine Neugierde. Ich wollte mehr hören.
Ich mach es bald. Wenn ich mir den anschaue, so weit darf es bei mir nicht kommen.
Wir sprachen über seinen Jeep.
Da kommt Karin, muss mich etwas zur Seite drehen. Im Profil sehe ich noch besser aus.
Ich erzählte von einem Testbericht, den ich in einer Zeitschrift für Geländewagen gelesen hatte.
Diesmal wird's schneller abheilen.
Karin rief zu uns herüber: »Hallo, ihr beiden!«
Ich erwiderte den Gruß, und Markus drehte sich mit den Worten um: »Ach hallo, Karin, schöne Frau, hatte dich gar nicht gesehen.«
Tolles Gefühl, die Weiber gucken immer nur mich an. Wirke neben Arne natürlich noch viel besser.
Konsterniert blickte ich in seine tiefblauen Augen - und mir fiel nichts mehr ein, was ich noch hätte sagen sollen.
Kein Mensch wird je erfahren, dass ich geliftet bin.
Das haute mich dann wahrlich um. Markus hatte sich also das Gesicht straffen lassen, vielleicht schon vor vielen Jahren, deshalb sah er so gut aus. Auf diese Idee wäre ich niemals gekommen.
Den ganzen Bürotag über freute ich mich auf das Cruisen.
Weiter machte mir in jenen Wochen überhaupt nichts Spaß.
Ich hatte keine Lust zu lesen, keine Lust auf Menschen und keine Lust, sonst irgendetwas zu unternehmen. Spätabends auf meinem Hotelzimmer zappte ich lustlos durch die TV-Kanäle, trank dabei ein paar Gläser Rotwein, und gegen Mitternacht fiel ich in einen fast immer zermürbenden Schlaf. Meine Träume hinterließen Angst, Beklommenheit und eine bis dahin nicht gekannte Anspannung. Dabei konnte ich mich nie konkret an das Traumgeschehen erinnern. Bis weit in den Tag hinein stand ich unter dem finsteren Eindruck, den die Nacht hinterlassen hatte.
Setzte ich mich nach der Arbeit in mein Auto, kam es mir so vor, als würde ich mich der Realität entziehen.
Schon das Schließen der Tür nach dem Einsteigen war eine Wohltat. Ich konnte zwar die Welt sehen, aber sie blieb draußen. Und dann startete ich den Motor, legte den Schalthebel meines Automatikgetriebes auf D, drückte die On-Taste des CD-Spielers und fuhr zum Beispiel bei Johnny Cashs »I Walk the Line« los.
In diesen Tagen und Wochen dachte ich während des Cruisens meistens über den Tod und die Vergänglichkeit nach.
So viel Zeit hatte ich nicht mehr. Die Hälfte meines Lebens lag bereits hinter mir. Vermutlich schon weitaus mehr. Das war eine traurige Erkenntnis. In dieser Deutlichkeit hatte ich mir das in den Jahren zuvor nicht vor Augen geführt.
Ganz früher war es mir sogar immer so vorgekommen, als würde die Endlichkeit mich persönlich nicht sonderlich tangieren. Zumindest nicht in absehbarer Zeit. Der eigene Tod erschien mir wie ein theoretisches Phänomen, nicht jedoch wie ein Faktum, das unabwendbar auf mich zukam. Je älter ich allerdings wurde, desto mehr veränderte sich diese Einschätzung. So kam es, dass der Tod bereits vor meinem Unfall zu einem bedeutenden Thema für mich geworden war. Nun allerdings hatte ich das Gefühl, der Sensenmann würde mir bereits im Nacken sitzen und nach mir züngeln. Zum ersten Mal in meinem Leben gelang es mir, wenn auch nur für wenige Sekunden, diesen Gedanken zu denken und zu begreifen:
Nach deinem Tod wirst du auf ewig nicht mehr sein.
Keine erbauliche Vorstellung. Sie weckte fast klaustrophobische Gefühle in mir, denn meine Zeit schrumpfte ja permanent, es wurde immer enger. Wie gern hätte ich
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