Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der Gedankenleser

Der Gedankenleser

Titel: Der Gedankenleser Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jürgen Domian
Vom Netzwerk:
einen Allah, einen Gott oder einen Jesus gehabt, der zu mir gesagt hätte: »Alles kein Problem. Bei mir ist Zeit im Überfluss. Glaube einfach an mich und komm herüber. Hier ist es hell, warm und friedlich, hier gibt es nur noch Antworten, keine Fragen mehr.«
    Aber leider hatte ich keinen Gott dieser Art. Ich musste allein mit meiner Sterblichkeit klarkommen. Und je mehr ich über sie nachdachte, desto größer wurde das Grauen. Ich hatte entsetzliche Angst. Sowohl vor dem Sterben als auch vor dem Tod selbst. Wie tröstlich mir bei all diesen Grübeleien die Stimme von Johnny Cash vorkam. Sie war das Gegenprogramm, die Aufforderung, das Leben zu umarmen, solange man es noch umarmen konnte. »I'm on Fire«, sang der gute Johnny, während ich über die Landstraßen am Rande unserer Stadt glitt.
    Und immer wieder musste ich dabei an meine Eltern denken. So lange waren sie nun schon tot, und so viele Jahre hätten sie ihr Leben noch genießen können. Von einer Minute auf die andere war alles vorbei gewesen. Nur weil ein Idiot von Lkw-Fahrer in seinen tragbaren Fernseher geglotzt hatte, anstatt auf die Straße zu achten. Ich weiß noch, wie schier unbegreiflich die Vorstellung für mich war, sie niemals mehr Wiedersehen zu können. Das wollte und konnte ich nicht glauben. Geliebte Menschen durften doch nicht einfach so verschwinden. Im Nachhinein bin ich sicher, dass ich die ersten Monate, vielleicht sogar das erste Jahr, nur deshalb weiterleben konnte, weil ich ihren Tod ignorierte. Ich verdrängte meine Trauer. Ich ließ keinen Gedanken zu, der mir ihr Ende erbarmungslos vor Augen geführt hätte. Stattdessen benebelte ich mich mit der Illusion, sie seien lediglich auf einer längeren Reise oder vielleicht zur Kur gefahren. Erst im zweiten Jahr nach ihrem Tod begann ich zu begreifen, dass ich meine geliebten Eltern für immer verloren hatte.
    Nie werde ich den letzten Satz meiner Mutter vergessen. Als hätte sie ihr baldiges Ende geahnt, sprach sie etwas aus, was ihr offensichtlich sehr am Herzen lag. Etwa zwei Stunden vor ihrem tödlichen Unfall hatte ich noch mit ihr telefoniert. Wir redeten über eine bevorstehende Familienfeier, über die überwundene Erkältung meines Vaters und über einige Belanglosigkeiten. Sie war etwas in Eile, und am Ende des Telefonats sagte sie völlig unvermittelt: »Weißt du, Junge, dein Vater und ich, wir sind richtig stolz auf dich.« Ich war irritiert und auch verlegen. So sehr, dass ich mich weder für das Kompliment bedankte noch nachfragte, warum sie es mir gerade zu diesem Zeitpunkt machte. Es war nichts Außergewöhnliches passiert. Ich hatte keinen Preis erhalten, keinen herausragenden Artikel geschrieben oder sonst irgendetwas Bemerkenswertes getan. Ich war so perplex, dass ich nur noch erwiderte: »Na gut, ähm ... dann mal bis morgen - und grüß Papa!«
    Soweit ich zurückdenken kann, hatte ich mir Geschwister gewünscht. Aber die Erfüllung dieses Wunsches war mir versagt geblieben. Was mir sehr zu schaffen machte. Eigentlich mein Leben lang. Ständig vermisste ich meinen imaginären Bruder oder meine imaginäre Schwester. Als meine Eltern dann ums Leben gekommen waren, wurde die Sehnsucht nach einem so engen Blutsverwandten größer denn je. Wie gern hätte ich mich damals an die Schulter meines Bruders oder meiner Schwester angelehnt und zusammen mit ihm oder ihr den Verlust der Eltern beweint. Ein auf zwei Seelen verteilter Schmerz wäre leichter zu ertragen gewesen. So aber lastete alles allein auf mir. Und Anna, später? Sie konnte mir nicht helfen, mich nicht trösten. Dabei gab sie sich alle Mühe, war herzlich und mitfühlend. Aber sie erreichte mich nicht. Im Gegenteil, zuweilen empfand ich ihre gut gemeinten Worte sogar als störend. Und wenn sie mich dabei auch noch streichelte, zärtlich über den Kopf oder über die Wangen strich, hätte ich sie am liebsten weggestoßen. Die düsteren, weitläufigen Räume meiner Trauer durfte sie nicht betreten.
     

    Manchmal fuhr ich nach der Arbeit drei bis vier Stunden lang durch die Gegend. Unterbrochen meist nur von einer kleinen Abendbrotpause an irgendeinem Imbiss. Es gab Johnny-Cash-Abende und Frank-Sinatra-Abende. Je nach Gefühlslage. War ich in einer melancholisch-sehnsuchtsvollen Stimmung, legte ich die Cash-CD ein, fühlte ich mich besonders einsam und traurig, entschied ich mich für Sinatra. Und so blieb es dann während der gesamten Cruising-Tour. Hinter- oder gar durcheinander hörte ich meine beiden

Weitere Kostenlose Bücher