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Der Gedankenleser

Der Gedankenleser

Titel: Der Gedankenleser Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jürgen Domian
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Erfahrung. In Sachen Sexualität hatten wir einander immer, so dachte ich zumindest, alles erzählt. Jedes Erlebnis, jede Fantasie, jeden schmutzigen Gedanken. Erkannte alle meine Vorlieben, und ich meinte genau zu wissen, worauf er stand. Dass er eine heimliche Vorliebe für Kinder hegte, wäre mir in tausend Jahren nicht in den Sinn gekommen.
    Wann war er sich dieser perversen Neigung bewusst geworden? Bestimmt schon früh.
    Bestimmt nicht erst, als seine Tochter geboren worden war. Bestimmt hatte er sich zu unserer Zeit auch schon in Gedanken mit nackten kleinen Mädchen beschäftigt. Wie abscheulich. Der Boden unter mir wankte.
    Wieso war er sich keiner Schuld bewusst? Seine Gedanken hatten keinerlei Selbstzweifel oder Selbstkritik erkennen lassen. Was das Ganze noch viel schlimmer machte. Hätte er vor Gericht gestanden und anschließend professionelle Hilfe gesucht, wäre ich auch schockiert gewesen, ja, aber vielleicht hätte ich mich wieder auf ihn einlassen können. Je nachdem, wie überzeugend sein Bestreben gewesen wäre, gegen diese abartige Neigung vorzugehen. War Greta das einzige Kind gewesen, an dem er sich vergangen hatte? Ich mochte mir gar nicht ausmalen, was vielleicht früher schon alles geschehen war - oder was noch geschehen könnte. Konsumierte er auch Kinderpornografie? Vielleicht schon damals, als wir enge Freunde waren? Wie konnte man sich so in einem Menschen täuschen?
    Warum hatte er sich mir nicht anvertraut?
     

    Dieser Einblick in die Seele meines ehemaligen Freundes Moritz machte mir so schwer zu schaffen, dass ich nicht wusste, wie es nun weitergehen sollte.
    Meine »Gabe« war zu einem Fluch geworden.
    Nicht nur, dass sie mir ein weiteres Mal einen Blick in die schier unendlichen Abgründe der menschlichen Seele gewährt hatte, sie war nun auch noch die Ursache dafür, dass ich in einem Dilemma steckte. Ich hatte etwas ungemein Wichtiges erfahren, konnte mit diesem Wissen aber nichts anfangen. Mir waren die Hände gebunden. Moritz hatte alles abgestritten, spielte das Opfer, fühlte sich rundherum ungerecht behandelt. Ich aber wusste, dass er schuldig war, dass er seine Veranlagung nicht im Geringsten problematisierte und somit auch keinerlei Reue empfand. Ich konnte sogar, aufgrund seiner unverblümten Gedanken, eine Wiederholungstat nicht ausschließen. Was sollte ich bloß tun?
     

    Ich hätte mich mit der Polizei in Verbindung setzen können. Klar, und dann? Den Beamten erzählen, dass ich aus dem Gehirn von Moritz K. die Wahrheit gehört hatte? Ich konnte mir schon die Gedanken der Polizisten vorstellen: »Der Typ hat doch 'ne Schraube locker.«
    Ich hätte Birte einen anonymen Brief schreiben können, um sie zu warnen, dass sie Moritz wirklich für immer von Greta fernhalten sollte. Aber das würde sie, nach all dem, was vorgefallen war, ohnehin tun.
    Oder ich hätte mich vielleicht an die Staatsanwaltschaft wenden können, nach dem Motto: Ich habe erst jetzt von dem Fall erfahren, weiß aber schon lange um die pädophilen Neigungen meines ehemaligen Freundes. Ich muss unbedingt eine Aussage machen.
    Und weiter? Was sollte ich sagen? Und wie sollte ich begründen, dass ich mich nicht schon damals an die Behörden gewandt hatte? Im Übrigen würde diese Aktion keinen entscheidenden Vorteil bringen. Sie würde eine Wiederholungstat nicht verhindern können. Und darum ging es mir in erster Linie.
     

    Nein, meine Überlegungen führten zu nichts.
    Ich war ratlos und aufgewühlt.
    Mochte die Haftstrafe Moritz so beeindruckt und gebrochen haben, dass er nie wieder ein Kind anfassen würde.
     

    Unter dem Vorwand heftiger Übelkeit meldete ich mich bei Großbogenbelt krank.
     

    Es war früher Nachmittag. Ich setzte mich in mein Auto und fuhr los. Ich begann zu cruisen. Was sollte ich auch sonst tun? In mein ödes Hotelzimmer gehen? Nein, auf keinen Fall. Wenn es irgendwo noch annähernd ein Gefühl von Geborgenheit für mich gab, dann in meinem fahrenden Auto. Johnny Cash sang, ab und zu auch im Duett mit seiner Frau June Carter, und ich rauchte eine Zigarette nach der anderen.
     

    Mein ganzes Leben raste in wirren Bildern durch meinen Kopf. Ich sah meine Eltern, Tante Elfriede, immer wieder Anna - und Moritz, wie er früher gewesen war und wie ich ihn jetzt erlebt hatte. Ich sah mich als verängstigtes Kind in der Schule, als Student, als ehrgeizigen Reporter und tobte in Gedanken mit meinem Hund Paul herum. Ich dachte an meine vielen Reisen, an Erlebnisse in fernen

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