Der Gedankenleser
zog alle Register. Ich sei psychisch krank und nicht in der Lage, mich, wenn auch nur für einige Stunden, um ein Kind zu kümmern. Das war der erste Hammer. Doch dann gab es eine richterliche Entscheidung, dass Greta jedes zweite Wochenende zu mir kommen durfte. Als sie das Kind das erste Mal brachte, spuckte sie mir ins Gesicht, und Greta fragte hinterher: ›Warum hat die Mama das gemacht?‹«
»Wie schlimm das Ganze für Greta sein muss!«
»Ja, und dabei ist sie so ein Papa-Kind.«
Er schwieg kurz, wirkte nachdenklich.
»Und dann, Arne, kam der absolute Höhepunkt. Nach ein paar Wochenenden unterstellte Birte mir, ich wäre Greta gegenüber gewalttätig geworden - und es ging wieder vor Gericht.«
»Aber was sagte denn Greta?«
»Birte hat sie wohl weichgeknetet oder unter Druck gesetzt, ich weiß es nicht, auf jeden Fall gab sie an, ihr Papa sei mit einem Kerzenständer auf sie losgegangen und habe sie am Rücken getroffen.«
»Aber dann hätte sie doch verletzt sein müssen.«
»Sie hatte wohl auch ein paar blaue Flecke an der Schulter, von was auch immer.«
Moritz erzählte und erzählte. Von Gerichtsverhandlungen, medizinischen Gutachten, seinem Top-Anwalt und dem vielen Geld, das ihn die Sache schon gekostet hatte.
Anfangs hörte ich fassungslos und mitfühlend zu. Ist die Welt doch voll von Geschichten dieser Art. Kein Tag vergeht, an dem man nicht von einem entrechteten Kindesvater hört. Dennoch überkam mich nach geraumer Zeit ein merkwürdiges Gefühl. Viele Jahre zuvor hatte ich mich beruflich mit dieser Thematik beschäftigt. Aus meinem inneren Archiv versuchte ich ein paar Fakten abzurufen. Was mir aber nicht so recht gelang. Also hörte ich Moritz weiter zu, fragte kaum mehr nach, kommentierte auch nichts, rauchte und trank. Zwischendurch hatte ich den Eindruck, er habe völlig vergessen, dass ich neben ihm saß. Sein Sprechen glich mehr und mehr einem Monolog, den er auch ohne meine Anwesenheit hätte führen können. Er schaute mich nicht einmal mehr an, sondern stierte unentwegt auf die Tischplatte. Mein mulmiges Gefühl wurde stärker. Irgendetwas stimmte nicht. Je aufmerksamer ich ihm zuhörte, desto sicherer wurde ich, dass die Sache so, wie er sie schilderte, nicht der Wahrheit entsprechen konnte. Es gab zu viele Ungereimtheiten. Und während ich anfing, darüber nachzudenken, stoppte er plötzlich seinen Redeschwall, stand wieder auf und ging erneut zum Fenster. Diesmal öffnete er es, neigte sich ein wenig hinaus und atmete demonstrativ die kühle Abendluft ein. Diese kurze Pause kam mir gerade recht. Denn so konnte ich mich besser auf die in meinem Gehirn abgespeicherten Daten konzentrieren. Und tatsächlich, meine Erinnerungen an das Thema »Rechte nicht verheirateter Väter« nahmen allmählich Gestalt an und wurden fassbar. Moritz schloss das Fenster und setzte sich wieder hin.
»So ist das«, sagte er. »Und irgendwann wird Greta ihre Mutter fragen: ›Warum?‹ Und dann wird das Dreckstück sich rechtfertigen müssen. Prost!« Er hielt mir sein Cognacglas entgegen. Ich zögerte einen Augenblick, aber dann stießen wir an. In diesem Moment beschloss ich, nichts mehr zu trinken. Ich nippte nur ein wenig an meinem Glas und stellte es schnell wieder zurück auf den Tisch. Ich wollte einen klaren Kopf behalten. Ich wollte Moritz mit meiner Skepsis konfrontieren. Nicht direkt, aber es waren einfach zu viele Fragen offengeblieben. Vielleicht hatte er sich im Eifer des Erzählens lediglich ungeschickt und widersprüchlich ausgedrückt, während die Sache an sich durchaus stimmte. Was mir natürlich am liebsten gewesen wäre. Vielleicht aber hatte er mir auch gezielt die Unwahrheit gesagt, was mich sehr enttäuscht und verletzt hätte, da wir so viele Jahre die besten Freunde gewesen waren.
Ich zündete mir eine neue Zigarette an und begann zunächst mit ein paar neutralen Äußerungen. Unverheiratete Väter haben es schwer, die Rechtslage jedoch hat sich etwas verbessert, viele Konflikte der Partner werden auf dem Rücken der Kinder ausgetragen, in der Tat gibt es Frauen, die ihre Machtposition brutal ausspielen, und so weiter.
Dann stellte ich meine ersten Fragen. Ein rascher Schlagabtausch begann. Moritz hatte stets eine Antwort parat, erzählte neue Details, präsentiere sich beinahe perfekt als Opfer einer ungeheuren Ungerechtigkeit. Ich aber wurde immer misstrauischer und fragte entsprechend scharf nach. Bis er plötzlich sagte: »He, Alter, was soll das? Sitze ich hier in
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