Der Gedankenleser
schrieb noch zwei Artikel, verbrachte die Mittagspause allein, redigierte am Nachmittag für einen Aushilfsredakteur eine umfangreiche Reportage und blieb bis etwa siebzehn Uhr in der Redaktion. Das Fach mit meinen persönlichen Sachen in unserem Großraumbüro hatte ich schnell ausgeräumt. Ein elektronisches Wörterbuch (Deutsch - Englisch), einen Taschenrechner und ein kleines Diktiergerät steckte ich in meine Jackentaschen, der Rest flog in den Papierkorb. Der einzige Kollege, von dem ich mich verabschiedete, war Karl-Heinz. »Ich wünsche dir Glück und Gutes«, sagte ich zu ihm. »Genau das wünsche ich dir auch«, erwiderte er mit ernster Miene. Ein paar Sekunden hielten wir einander bei den Händen und schauten uns in die Augen. Ich hörte:
Du machst es richtig. Ich habe keine Kraft mehr dazu.
»Also dann, ich muss zum Chef. Auf Wiedersehen.« Und schon wandte er sich von mir ab.
Ohne noch einmal einen Blick zurückzuwerfen, verließ ich schweigend das Büro. Für immer.
Als hätte das Schicksal alles perfekt aufeinander abgestimmt, rief Anna am nächsten Tag an und verkündete, dass unser Haus zu einem ordentlichen Preis verkauft worden sei. Ich könne schon bald mit dem Geld rechnen. Nun fehlte nur noch unsere Scheidung. Aber auch die sollte nicht mehr lange auf sich warten lassen.
Meine erste Cruising-Tour in Freiheit glich einer Triumphfahrt. Sinatras Stimme dröhnte aus den Boxen, und ich grölte lauthals mit. Bis tief in die Nacht hinein fuhr ich umher. Alles kam mir surreal vor. Niemals hätte ich gedacht, dass mein Leben einmal einen solchen Verlauf nehmen würde.
Trennung von Anna. Haus verkauft. Job gekündigt.
Ich fühlte mich stark und mutig. Der vorsichtige, abwägende und zögerliche Arne war zu einem Gespenst aus der Vergangenheit geworden. Großartig! Zum ersten Mal in meinen siebenundvierzig Lebensjahren wollte ich mich einfach nur treiben lassen. Das war beschlossene Sache. Ohne schlechtes Gewissen in den Tag hinein leben. Kein Leistungsdruck mehr, keine Termine, keine Verpflichtungen.
Mein Plan war es, keinen Plan zu haben.
Schon nach einer Woche waren meine Arbeit, die Redaktion und die Kollegen in weite Ferne gerückt. Wie ich es genoss, erst am späten Vormittag aufzustehen, mir das Frühstück auf mein Zimmer bringen zu lassen und dann in aller Ruhe in einem Buch zu lesen. Ich stellte mir das hektische Treiben im Verlag vor, malte mir die oftmals so bedrückende Atmosphäre während unserer Morgenkonferenzen aus und erinnerte mich an Großbogenbelts bestialischen Mundgestank - und dann sagte ich laut vor mich hin: »Nie wieder! Nie wieder!« Trank noch eine Tasse Kaffee und vertiefte mich in meine Lektüre.
Die Nachmittage verbrachte ich meistens mit Ausfahrten und längeren Spaziergängen in der Umgebung. Am Abend las ich wieder, schaute mir alte Filme auf meinem Laptop an, trank Wein und ging früh schlafen.
Nach zwei Wochen normalisierte sich meine Stimmung. Die anfängliche Euphorie, vom Alltag befreit zu sein, schwand allmählich. Ich wurde ernster und auch melancholischer -und stellte mir eine Menge Fragen.
Wie würde das Leben weitergehen? Was sollte ich tun? In der Stadt bleiben? Eine Reise machen? Würde der Fluch bis zu meinem Tode an mir haften bleiben? Könnte ich es aushalten, für immer allein zu sein? Warum hatte ich keine Sehnsucht nach Frauen?
Erst jetzt fiel mir ein Zusammenhang auf. Seit ich Gedanken lesen konnte, war mein Interesse an Sexualität so gut wie verschwunden. Der Fluch duldete also keine Gelüste dieser Art. Ich hatte nicht einmal das Bedürfnis, mich selbst zu befriedigen. Was mich nicht sonderlich störte. Wäre ich zwanzig Jahre jünger gewesen, hätte ich mir bestimmt Sorgen gemacht, so aber sah ich die Sache gelassen. Zumal sich ja während der letzten Zeit mit Anna meine geschlechtlichen Triebe auch kaum mehr bemerkbar gemacht hatten. Im Nachhinein wundere ich mich, wie wenig ich damals meine »Gabe«, die für mich ja zu einem Fluch geworden war, problematisierte. Vielleicht steckte ein Selbstschutzmechanismus meines Gehirns dahinter. Denn hätte ich immer wieder im Detail über all die damit verbundenen Konsequenzen nachgedacht, wahrscheinlich wäre ich dem Irrsinn verfallen.
Ein Gefühl allerdings konnte ich nicht ignorieren: meine Einsamkeit. Wie schon kurz vor der Begegnung mit Moritz schnitt sie sich messerscharf in mein Bewusstsein. Ich musste etwas unternehmen. Das wurde mir
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