Der Gedankenleser
klar.
Bestimmt vierzehn oder fünfzehn Jahre war ich nicht mehr im Nachtleben unserer Stadt unterwegs gewesen. Ich hatte brav und bieder an der Seite meiner Frau gelebt. Ab und zu waren wir essen gegangen, hatten danach äußerst selten noch eine Bar besucht - und das war es dann auch gewesen. Die Heimeligkeit unserer Beziehung und unserer vier Wände hatte uns so lethargisch gemacht.
Nun aber war eine andere Zeit angebrochen. Ich fühlte mich ungebunden wie noch nie. Ich lebte mitten in einer großen Stadt. Es gab Dutzende von Kneipen, Bars und Diskotheken, die, wenn überhaupt, erst in den frühen Morgenstunden schlossen. Und es gab eine Heerschar von bunten Vögeln, die aus den Nächten Tage machten. Vielleicht würde ich unter ihnen einen Menschen finden, dem ich mich annähern könnte, eine Art Seelenverwandten. Die dunklen Stunden waren immer schon ein Sammelbecken der Gestrandeten, der Außenseiter, der Einzelgänger, der Sonderlinge, der Gescheiterten und der Suchenden gewesen. Zu diesen zählte ich jetzt auch. Also war die Entscheidung schnell gereift. Unter genau diese Leute wollte ich mich mischen.
Schon in der nächsten Nacht.
15
La Cage aux Folles entwickelte sich schnell zu meiner Stammkneipe. Wobei die Bezeichnung »Kneipe« eigentlich nicht zutreffend ist. Das La Cage, wie es von seinen Gästen kurz genannt wurde, war Travestie-Theater, Bar und Nachtgaststätte in einem. Sein Besitzer, etwa Anfang vierzig, Künstlername Jean Jeanette, war ein glühender Verehrer des französischen Regisseurs Edouard Molinaro. Und so hatte er seinen Laden nach Molinaros vielleicht berühmtestem Film, der Travestiekomödie La Cage aux Folles, benannt, zu Deutsch Ein Käfig voller Narren. Die Wände waren tapeziert mit allen nur erdenklichen Bildern aus Molinaros Schaffenszeit. Zunächst der Meister selbst in den verschiedensten Posen, dann Filmszenen mit Jacques Brei, Lino Ventura, Louis de Funès und Claude Jade. Überlebensgroß erstrahlte rechts und links neben der kleinen Bühne des La Cage Michel Serrault, der unumstrittene Star aus Ein Käfig voller Narren. Die Poster zeigten ihn auf der einen Seite als tiefschwarz geschminkte Marlene Dietrich, lasziv auf einem Barhocker sitzend, und auf der anderen als aufgetakelte Blondine, die gerade aus einer Geburtstagstorte steigt. Über der Bühne war ein Zitat von Serrault zu lesen:
»Ich bin eine Art Brache, auf der ich weiß nicht welches Geheimnis gedeiht.«
Fast jede Nacht ging ich ins La Cage - und meistens wurde es fünf oder sechs Uhr morgens, bis ich wieder zurück in meinem Hotel war. Die ersten beiden Wochen verhielt ich mich wie ein Zaungast. Aus Vorsicht, aus Unsicherheit. Ich nahm versteckt in irgendeiner Ecke Platz, sprach mit niemandem und genoss die exotische Atmosphäre. In einem solchen Lokal war ich noch nie gewesen. Leute aus allen Schichten und beinahe jeden Alters verkehrten dort, so schien es mir. Ebenso dubiose Gestalten, die ich der Unterwelt zuordnete, vielleicht Zuhälter, Dealer, Schläger. Und Huren gehörten zu den Stammgästen. Als ich später ein paar von ihnen kennenlernte, erzählten sie mir, dass sie sich im La Cage sicher fühlten und dort gern ihre Arbeitsnacht ausklingen ließen. Dann gab es eine Menge Frauen, die jedoch keine Frauen waren. Hässliche und tragisch anmutende Gestalten, aber auch derart attraktive, dass nur der geschulte Blick sie als Männer identifizieren konnte. Mein Blick schulte sich in dieser Umgebung sehr schnell.
Im Mittelpunkt des Geschehens aber stand unangefochten Jean, Jean Jeanette. Er begrüßte jeden Gast mit Handschlag, war ein virtuoser Barkeeper und ein glänzender Conferencier. Ab Mitternacht ging es los - immer zur vollen Stunde, bis in den frühen Morgen hinein. Auf der winzigen Bühne des La Cage präsentierte er kleine Travestie-Shows. Drei Künstler traten jeweils hintereinander auf, gaben zwei oder drei Songs zum Besten, und zwischendurch moderierte Jean. Witzig, souverän und stets anzüglich. An manchen Abenden war auch er als Frau verkleidet, ansonsten trug er einen klassisch eleganten Smoking. Keine Nacht war wie die andere. Die kleinen Shows variierten; zu Jeans festem Travestie-Ensemble gesellten sich allnächtlich sogenannte Gaststars, und ab und zu, wenn der Chef in Stimmung war, trat er auch selbst auf. Entweder als Harald Juhnke, Hildegard Knef oder Shirley Bassey. Der Laden war immer voll. Die ganze Woche über. Was mich sehr erstaunte. Während ich früher brav
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