Der Gedankenleser
einem Verhör? Glaubst du mir etwa nicht? Das ist ja wohl das Letzte. Mein bester Kumpel aus alten Zeiten stellt mich als Lügner hin!«
Ich zuckte zusammen. Wieder sagte er »Alter« zu mir, und als »beste Kumpels« hatten wir uns früher auch nie bezeichnet.
»Beruhige dich, war nicht so gemeint«, antwortete ich.
»Na, das will ich auch hoffen. Komm, trink noch einen.«
Er schüttete mein halbleeres Glas voll bis an den Rand.
»Auf die Gerechtigkeit!«, polterte er und hob das Glas, um mit mir anzustoßen.
»Auf die Wahrheit!«, erwiderte ich, und unsere Gläser klirrten aneinander. Ich nippte wieder nur ein wenig.
»Auf die Wahrheit? Was soll das denn nun schon wieder heißen?«, blaffte er mich an.
»Ach, Wahrheit, Gerechtigkeit, das ist doch alles dasselbe«, sagte ich.
»Okay, darauf können wir uns einigen.«
Ich spielte den Gelassenen, aber innerlich kochte ich.
Das war nicht mehr mein alter Freund Moritz. Das war ein Fremder. Und dieser Fremde verheimlichte mir etwas Wichtiges. Davon war ich überzeugt.
Ich entschied, meinen Vorsatz, nicht in das Gehirn von Moritz hineinzuhorchen, über Bord zu werfen. Es fiel mir nicht einmal schwer, weil ich mich provoziert fühlte und ausgesprochen neugierig geworden war. Also musste ich es nun bewerkstelligen, dass wir näher zueinanderrückten. Denn er saß nach wie vor auf dem Sessel, ich auf der Couch.
»Hast du Fotos von Greta?«, fragte ich.
»Klar, willst du sie sehen?«
»Sehr gerne!«
Er ging zum Schrank und holte aus einer Schublade einen dicken Stapel Bilder.
»Komm, setz dich zu mir, dann kannst du mir zu den Fotos was erzählen«, sagte ich.
Und schon saß er so nahe neben mir auf dem Sofa, dass sich unsere Beine und Schultern immer wieder berührten.
Vor meinen inneren Augen tat sich ein wildes Farbengemisch auf, das ich noch nicht einmal ansatzweise zu deuten vermochte.
Meine Maus.
»Das ist sie«, sagte er.
»Wie nett! Wie alt ist sie auf diesem Foto?«
»Vier.«
Wie mag sie wohl heute aussehen?
»Unsere erste gemeinsame Schlittenfahrt.«
»Wirklich niedlich, die Kleine.«
Das kann man wohl sagen.
»Hier waren wir zusammen im Freibad.«
»Eine kleine Prinzessin.«
Und so rein und unberührt wie ein Engel.
»Von der Wasserrutsche konnte sie gar nicht genug bekommen.«
Ich hielt die einzelnen Fotos lange in der Hand und schaute sie mir genau an. So war gewährleistet, dass Moritz eng bei mir sitzen blieb und seine Gedanken mich gut erreichten. Vielleicht konnte ich auf diese Weise irgendetwas Neues herausbekommen. Das war mein Kalkül. Und es sollte schneller aufgehen, als ich erwartet hatte.
»Wie alt ist sie auf diesem Bild hier?«, fragte ich.
»Gerade mal sechs. Die Aufnahme ist ein paar Tage nach ihrem ersten Schultag entstanden.«
Sie war in ihrer Klasse die Allersüßeste.
»Ist sie gerne zur Schule gegangen?«
Damals war noch alles in Ordnung. Es hätte immer so weitergehen können.
»Ähm ... ja. Doch, sehr gerne. Im Rechnen zum Beispiel war sie allen voraus.«
Diese Scheißfotze Birte. Mein ganzes Leben hat sie ruiniert.
»Ah, hier ist sie ja mit Schultüte«, sagte ich.
Ja, das Ding hab ich ihr gekauft. Wenn ich an die ganze Kohle denke, die ich damals ausgegeben habe. Schuhe, Kleidchen, Puppenstube, der ganze Mist. Und für was?
»Auf die Schultüte war mein Schätzchen ganz besonders stolz. Ich mag dieses Foto sehr.«
»Ja, ihr Gesicht ist sehr schön getroffen.«
Und ihre Beinchen, das Röckchen, die Schuhe.
»Sie sieht wirklich sehr zart aus«, kommentierte ich weiter. Daraufhin schwieg er. Schwieg lange. Bis ich die Stimme hörte:
Oh ja, das ist sie auch. So zart. So sehr zart.
Warum dachte er das nur und sprach es nicht aus? Ich konnte es mir nicht erklären. Also wollte ich mehr hören und schwieg ebenfalls. Meine Worte sollten seine Gedanken nicht stören oder ablenken. Ich kam mir vor wie ein Raubtier, das auf der Lauer liegt.
Die Stimme allerdings war verstummt. Stille in seinem Gehirn. Nichts kam bei mir an. Ich spürte, wie er regungslos neben mir verharrte. Und dann sah ich allmählich eine bräunliche Farbe in meinem Inneren aufziehen. Ich schaute in sein Gesicht. Er starrte auf das Foto und zog immer wieder kräftig an seiner Zigarette.
Das nächste Bild zeigte die kleine Greta nackt in einem aufblasbaren Planschbecken auf einer Terrasse.
Es war das Geilste, was ich je
Weitere Kostenlose Bücher