Der Gedankenleser
anerkennend.
Na, nochmal die Kurve gekriegt, Schätzelein.
»Hast du keine Freundin oder Frau?«, fragte er.
Diese Frage fand ich nun impertinent. So gut kannten wir uns auch wieder nicht, als dass er sie hätte stellen dürfen.
»Und du, hast du eine Freundin oder einen Freund?«, gab ich zurück.
Oh, là, là! Der Kleine wird keck.
»Mein Herz ist groß, und meine Seele ist rein«, antwortete er, wackelte dabei ein wenig mit dem Kopf und klimperte mit den Wimpern.
So, jetzt hab ich mich genug mit ihm beschäftigt, das reicht. Nun soll er schön lange hierbleiben und reichlich trinken.
»Die Pflicht ruft, mein lieber Arne. Hab eine aufregende und unterhaltsame Nacht im La Cage!«
Er gab mir einen Kuss auf die Wange, nahm sein Champagnerglas und rauschte ab.
Die Tage verschlief ich meistens. Erst gegen vierzehn oder fünfzehn Uhr stand ich auf. Was zu gewissen Komplikationen mit der Hotelleitung führte. Denn eigentlich wurden die Zimmer immer am Vormittag gereinigt. Ich einigte mich allerdings mit dem Chef des Hauses auf eine Ausnahmeregelung und hatte so bis sechzehn Uhr absolute Ruhe. Sogar ein Frühstück servierte man mir noch am Nachmittag auf dem Zimmer, gegen Aufpreis natürlich. Aber das war mir egal. Die Stunden, bis ich mich zum Ausgehen fertig machte, verbummelte ich meistens. Ich schlenderte durch die Stadt, cruiste ein wenig durch die Gegend - oder las. In diesen Wochen hatten es mir besonders die Romantiker angetan. Eichendorff, Novalis und E. T. A. Hoffmann.
Gegen zweiundzwanzig Uhr brach ich auf. In der Regel ging ich zunächst in irgendeine Kneipe, trank am Tresen ein Bier, beobachtete die Menschen und das Treiben dort, wechselte anschließend in eine Bar, und kurz vor Mitternacht steuerte ich in Richtung La Cage.
Das Gespräch mit Jean hatte das Eis gebrochen. Ich war nicht mehr darauf bedacht, allein und möglichst versteckt am Rand zu sitzen. Ich wollte mit Menschen in Kontakt kommen. In den Kneipen und Bars genoss ich es noch, allein zu sein, aber später dann im La Cage stand mir der Sinn nach Kommunikation. Und obwohl ich ja grundsätzlich meine »Gabe« inzwischen als Fluch betrachtete, so muss ich zugeben, dass in mir dennoch eine gewisse Ambivalenz herrschte. Einerseits hasste ich die Stimme, andererseits aber gierte ich wieder nach ihr. Ich war in eine völlig fremde Welt eingetaucht und wollte wissen, welche Seelen sich hinter der verraucht-funkelnden Fassade des Nachtlebens verbargen. Ich war scharf auf die Intimitäten der Menschen. Der Voyeur in mir spitzte mal wieder lüstern seine Ohren.
An einem frühen Samstagmorgen, ich hatte schon eine Menge Cocktails getrunken, lernte ich an der Mahagoni-Theke des La Cage Thomas kennen, das heißt, er sprach mich an. Er schien mindestens so betrunken zu sein wie ich, und entsprechend hemmungslos verlief unsere Unterhaltung. Wir plauderten zunächst ein wenig über das La Cage, über Cocktails und über die Shows, die während der Nacht auf der kleinen Bühne dargeboten worden waren.
Und dann fragte ich ihn ganz unvermittelt:
»Bist du schwul?«
Ich bin nicht schwul.
»Manchmal.«
»Manchmal?«
»Ja, wenn es sich so ergibt.«
Aber ich liebe meine Frau.
»Du liebst deine Frau und bist manchmal schwul?«
Der Alkohol hatte mich fahrlässig werden lassen, so dass ich spontan auf seinen Gedanken reagierte. Das war mir schon lange nicht mehr passiert. Und ich ärgerte mich bereits in dem Moment, in dem ich meine Frage zu Ende formuliert hatte.
Was ist denn das?
»Woher weißt du, dass ich eine Frau habe und dass ich sie liebe?«, fragte Thomas in fast vorwurfsvollem Ton.
»Ach - ähm, hab's mir nur so gedacht, trägst ja einen Ehering«, stammelte ich.
»Ach so, na ja ... egal. Ja, ich bin verheiratet.«
Aber darüber hab ich hier und jetzt keinen Bock zu sprechen.
»Erzähl doch mal. Wie geht das? Wie kann man manchmal schwul sein?«
Auf dich bin ich bestimmt nicht scharf.
»Ich brauche es halt ab und zu. Das ist wie hin und wieder Fritten rot-weiß essen. Es geht nur um Sex. Ich könnte mich nie in einen Typ verlieben oder so ...«
»Weiß deine Frau davon?«
Lass Ingrid da raus, Mann!
»Bist du bescheuert?! Die würde vom Glauben abfallen.«
»Sie denkt also, dass du ihr treu bist?«
Ich bin ihr treu.
»Klar. Sie kriegt von alledem ja gar nichts mit. Heute Nacht zum Beispiel ist sie mit den Kindern bei
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