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Der Gedankenleser

Der Gedankenleser

Titel: Der Gedankenleser Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jürgen Domian
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im Bett gelegen hatte, war hier der Teufel los gewesen. Jede Nacht Karneval. Jede Nacht gute Stimmung. Jede Nacht Show-Time.
     

    Nach zwei Wochen im La Cage hatte ich die Ehre, von Jean registriert zu werden (obwohl er mich natürlich schon vom Sehen kannte). Das war eine Auszeichnung. Denn Jean war der Gott des Ladens. Wurde man von ihm wahrgenommen oder gar angesprochen, so gehörte man zu den Auserwählten und war in der Rangordnung der Gäste von der dritten in die erste Klasse aufgestiegen. Er begrüßte mich an jenem Abend besonders freundlich, führte mich persönlich an einen Tisch gleich neben der Bühne und setzte sich zu mir.
    Ich hatte mich damit abgefunden, der Stimme, sollte ich im La Cage mit jemandem ins Gespräch kommen, nicht ausweichen zu können. Ich wollte es auch gar nicht. Sie gehörte zu meinem neuen Leben und ich musste lernen, sie zu ertragen, zu akzeptieren und mit ihr umzugehen. Jean war in seiner extravaganten Aufmachung kaum wiederzuerkennen. Er trug eine mächtige brünette Perücke und eine riesige Brille mit Glitzerrand. Die gelockten Haare wallten über seine Schultern und reichten fast bis an den künstlichen Busen. Sein hautenges und fußknöchellanges schwarzes Kleid war mit silbernen Pailletten übersät und an den Seiten bis zum Oberschenkel geschlitzt. Er roch fantastisch, und sein eigentlich maskulines Gesicht war unter der starken Schminke kaum auszumachen. Sollte es noch einen allerletzten Rest Männlichkeit in seinem Antlitz gegeben haben - die glänzenden, beinahe schon obszön roten Lippen lenkten grandios davon ab.
     

    »Was möchtest du trinken?«, fragte Jean. Im La Cage wurde man geduzt. Das gehörte zum Stil des Hauses.
    »Einen Martini dry, bitte.«
     

    Was für ein Schnuckelchen. Ein bisschen alt, aber es geht noch.
     

    »Wie heißt du?« »Arne, Arne Stahl.«

    Wow, so will ich dich, hart wie Stahl.
     

    »Das ist aber ein toller Name. Ich heiße Jean, Jean Jeanette.«
    »Ich weiß! Auch ein toller Name.«
    Wir lachten beide, und Jeans Blick huschte sekundenschnell zu den Tischen neben uns.
     

    Pierre serviert schon wieder viel zu langsam. Diese Pfeife.
     

    »Was machst du von Beruf, Arne?«
    Ich zögerte kurz. Was sollte ich antworten? Die Wahrheit sagen? Nein. Oder vielleicht ...
     

    Ah, da kommt Dr. Krall mit seiner Schnalle. Prima. Der lässt viel Kohle hier und ist gut fürs Image. Soll ja irgendwo Direktor sein.
     

    »Ich bin Journalist, freier Journalist«, antwortete ich schließlich.
    »Du gütiger Himmel, wie interessant! Beim Fernsehen?«
    »Nein, bei der Zeitung.«
     

    Na, kann auch nicht schaden.
     

    »Für wen schreibst du?«
    Ich schüttelte ein paar renommierte Zeitungsnamen aus dem Ärmel und hoffte, dass er nicht weiter nachfragen würde. So war es dann auch. Denn genau in diesem Moment kam ein Angestellter an unseren Tisch und brachte meinen Martini und ein Glas Champagner für Jean.
    »Zum Wohl«, sagte er. »Auf den Käfig voller Narren!«, erwiderte ich - und wir stießen an.
    »Wie lange gibt es das La Cage schon?«, fragte ich.
    »Oh, wir sind jetzt im verflixten siebten Jahr.«
     

    Er ist so eine richtig süße Heterosocke.
     

    Jean schaute mich konzentriert an, öffnete wie in Zeitlupe seine Lippen, formte sie zu einem O und saugte, ebenfalls im Zeitlupentempo, an seiner Zigarette.
    »Ein gutes Konzept«, sagte ich. »Und einige Künstler, ich meine Künstlerinnen, sind wirklich hervorragend.«
    »Hallo! Mein Schätzchen! Alle! Alle sind hervorragend.«
     

    Hervorragend heruntergekommen. Außer Chantal, das muss ich zugeben.
     

    »Natürlich!«, erwiderte ich. »Und Ihre Shirley-Bassey-Nummer gestern war perfekt.«
    Das fand ich tatsächlich. Denn Jean hatte nicht, wie seine Kolleginnen, zum Vollplayback lediglich den Mund bewegt, sondern »Goldfinger« live gesungen - und dabei, soweit ich es beurteilen konnte, keinen einzigen Ton verfehlt. Eine hervorragende Leistung.
    »Liebelein«, sagte er mit verführerischem Blick, »hier duzen sich alle! Also: deine Shirley-Bassey-Nummer, bitte! Aber vielen Dank für das Kompliment!«
     

    Das völlig berechtigt ist. Gestern war ich besonders gut.
     

    »Haben Sie, oh Entschuldigung, hast du eine Gesangsausbildung?«
     

    Was für eine impertinente Frage!
     

    »Natürlich!«
     

    Als Einziger hier.
     

    »Drei Jahre Gesangsstudium. Sonst würde das bestimmt nicht so klappen.«
    »Habe ich mir schon gedacht, es klingt einfach zu professionell«, sagte ich

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