Der Gedankenleser
mit Geschlechtsgenossen geschätzt: Man konnte, ohne viele Worte zu machen, eine ganze Menge regeln. Mit Boris funktionierte dieser Männer-Code auf Anhieb fast perfekt. Dennoch erfuhren wir so allmählich eine ganze Menge voneinander.
Er war achtunddreißig Jahre alt und lebte in Graz, wo er als Schreinermeister in einem mittelgroßen Handwerksbetrieb arbeitete. Eine Frau oder Freundin hatte er zurzeit nicht, dafür aber eine neunjährige Tochter, um die er sich zusammen mit seiner Mutter kümmerte. Viele Wochen des Jahres war er auf Reisen. Eine unkonventionelle Arbeitszeitregelung in seinem Betrieb ermöglichte ihm diesen Luxus. Er liebte die nördlichen Regionen unseres Planeten, und so erzählte er mir viel von Alaska, Kanada und auch Russland. Überall dort war er schon gewesen. Die skandinavischen Länder, insbesondere Nordfinnland, kannte er noch nicht so gut. Das Thema Frauen sparten wir zunächst aus. Ich spürte, dass er nicht so gern darüber sprechen wollte - und was meine Person betraf, war im Grunde alles schnell berichtet. Zwar fragte er mich, ob ich nicht nach so langer Zeit wieder einmal Lust auf eine Frau hätte, als ich dies jedoch ohne Begründung verneinte, beließ er es dabei und bohrte nicht weiter nach. Und dann entdeckten wir eine Gemeinsamkeit, die uns gleich noch enger zusammenrücken ließ. Auch er mochte, bewunderte, verehrte Johnny Cash. Ganze Waldregionen durchwanderten wir und hatten dabei nur ein Thema: Cash. Als ich ihm von meiner Leidenschaft für das Cruisen erzählte, schlug er mir auf den Rücken und sagte: »Weißt du, was ich an schönen Sommerabenden, zusammen mit ein paar Jungs, liebend gerne mache?« Er hielt kurz inne, schaute mich erwartungsvoll an, und dann sagten wir im Duett: »Cruisen!«
Mir fiel auf, wie lange ich nicht mehr gelacht hatte. So gut wie gar nicht während meiner letzten Monate in Deutschland - und überhaupt nicht mehr, seitdem ich in Lappland lebte. Wenn man allein ist, wird man wohl ernst. Vielleicht liegt das in der Natur der Sache. Ob wohl Franz von Assisi, Buddha oder der berühmte Eremit Paulus von Theben während ihres Einsiedlerlebens ab und zu gelacht hatten? Ich weiß es nicht, jedenfalls ist davon nichts überliefert. Eigentlich, das muss ich gestehen, hatte ich das Lachen auch nicht sonderlich vermisst, wird auf der Welt doch allzu oft und allzu verlogen gelacht. Nun aber war plötzlich alles anders geworden. Es machte mir richtig Spaß, mit Boris herumzualbern, zu scherzen und zu schmunzeln. Als wir einmal während einer Wanderung an einem wilden Wasserfall Rast machten, spielten wir spontan »Ich sehe was, was du nicht siehst« und flachsten dabei wie Pubertierende. Ich glaube, seit Jahrzehnten hatte ich mich nicht mehr so unbeschwert gefühlt. Zwar achtete ich bei allem, was wir taten, immer äußerst genau darauf, Boris nicht zu nahe zu kommen, aber aus meinem Bewusstsein hatte ich den Fluch verbannt. Er hätte sonst meine neue Lebensfreude zerstört oder zumindest relativiert. Unterbewusst allerdings diktierte er mein Verhalten. Ich lud Boris zum Beispiel nicht ein, in meiner Hütte zu wohnen. Platz genug hätte es im Haus gegeben. In meiner Schlafstube stand sogar ein Etagenbett. Ich schlief immer unten, die obere Matratze war frei. Doch allein die Ahnung, einander in einem gemeinsam bewohnten Häuschen zwangsläufig hin und wieder etwas näherzukommen, hielt mich davon ab, ihm die Schlafstelle anzubieten. Also wohnte er weiterhin auf dem Campingplatz in der Nähe von Tuuli und nahm mir meine Zurückhaltung nicht übel. Wir waren ein paarmal zusammen in meinem Haus gewesen, ich hatte ihm alles gezeigt, auch die Schlafstube, und somit war ihm durchaus klar, dass ich ihn hätte einladen können. Aber ich tat es eben nicht. Meine Beweggründe schienen ihn nicht zu interessieren, sondern nur meine Entscheidung. Und die akzeptierte er.
Schon nach zwei Wochen fühlte ich mich wie verwandelt.
Aus dem Einsiedler und Schweiger war ein beinahe kommunikativer Mann geworden. Die verheerenden Erfahrungen mit Menschen aus meinem alten Leben, meine Scheu und meine Skepsis hatte ich zwar nicht vergessen, aber ich ließ mich von ihnen im Moment nicht leiten. Ich war auf dem besten Wege, mich auf eine echte Freundschaft einzulassen. Vielleicht hatte ich es sogar längst getan. Mein Vertrauen zu diesem Mann aus dem fernen Österreich wuchs jedenfalls zusehends. Und ich glaube, umgekehrt war es genauso. Denn als wir uns einmal nach einem
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