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Der Gedankenleser

Der Gedankenleser

Titel: Der Gedankenleser Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jürgen Domian
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gemeinsam verbrachten Tag schon verabschiedet hatten und uns gerade trennen wollten, blieb Boris plötzlich stehen und sagte völlig unvermittelt: »Gute Sache, dass wir uns getroffen haben. Weißt du, dass ich nur wegen dir noch hier bin? Ich wollte ja eigentlich längst weiter ans Nordkap, aber das lasse ich jetzt. Die letzte Woche werde ich nun auch noch hierbleiben.«
    Eine peinliche Stille kam auf. Solche Geständnisse machen Männer anderen Männern ja in der Regel nicht. Sie handeln vielleicht so, aber sie sprechen es nicht aus. Boris hatte mir ein Riesenkompliment zu Füßen gelegt und schien über seine eigenen Worte überrascht zu sein. Denn für Sekunden meinte ich eine leichte Röte auf seinem Gesicht wahrzunehmen. Er blickte nach unten und stand etwas unbeholfen vor mir. Dann kratzte er sich am Nacken und zündete sich schließlich eine Zigarette an. Das war sehr ungewöhnlich, da er gerade in Richtung Campingplatz aufbrechen wollte und er, wenn überhaupt, nur bei einem Bier und immer nur im Sitzen rauchte.
    »Und die letzte Woche wird die beste Woche!«, sagte ich, wohl sichtlich berührt von der Situation, und lächelte ihn dabei an. Aber dann fanden wir beide unsere Fassung wieder. Wir sprachen noch ein wenig über unsere Pläne für den nächsten Tag, er brachte mich zu meinem Auto, und als ich losfuhr, schaute ich immer wieder in den Rückspiegel. Ich sah, wie er langsam auf der Straße ging, zunächst in meine Richtung, und schließlich in einem Waldweg verschwand.
     

    Die letzte Woche wurde in der Tat eine ganz besondere Zeit. Wir verbrachten jeden Tag zusammen, vom frühen Morgen bis zum späten Abend. Und ich fühlte mich von Tag zu Tag besser.
    Sein Riesenkompliment hatte das Eis gebrochen, und wir gingen noch unbefangener miteinander um als zuvor. Ich konnte mich nicht erinnern, jemals so schnell und so intensiv mit einem Menschen, und dann auch noch mit einem Mann, in Kontakt gekommen zu sein. Was mich ein wenig verunsicherte, aber letztendlich überwog die große Freude darüber.
    Täglich erzählte Boris mir mehr über sich und seine Vergangenheit. Das tat ich meinerseits natürlich auch.
    Allerdings schien ihm die Offenbarung seiner Lebensgeschichte schwerzufallen. Zumindest einige spezielle Themen betreffend. Über die Mutter seiner Tochter beispielsweise redete er kaum. Sie hatten sich vor zirka sieben Jahren getrennt. Warum es zu der Trennung gekommen war, erzählte er nicht, nur dass sie sich anschließend auf Nimmerwiedersehen davongemacht habe. Und so sei die gemeinsame Tochter ohne ihre Mutter aufgewachsen. Auch beim Thema »Männerfreundschaften« wirkte Boris zurückhaltend. War es ihm peinlich, darüber zu sprechen? Zwar sagte er, dass ihm eine tiefe und ehrliche Verbindung zu einem Mann eigentlich wichtiger sei als eine hormongesteuerte Liebe zu einer Frau, aber das war es dann auch schon. Als ich mich erkundigte, ob er denn zu Hause einen wirklich engen Freund habe, verneinte er dies sofort in einer fast schroffen, mich irritierenden Art, so dass ich mich nicht getraute, weiter nachzufragen.
    Ansonsten aber hatte ich bald sein gesamtes Umfeld vor Augen. Seine Tochter, Ann-Katrin, die so sehr davon träumte, einmal Balletttänzerin zu werden ...
    Seine Mutter, eine einfache und wohl herzensgute Frau, die ihn allein großgezogen hatte, weil der Vater in jungen Jahren an einem Schlaganfall verstorben war ...
    Seine Arbeit, in der er voll und ganz aufging, die eher der Kunstschreinerei glich denn der üblichen Holzbearbeitung ...
    Seine Freunde und Bekannten, fast alle Mitglieder eines kleinen Grazer Fußballclubs, mit denen er beinahe seine gesamte Freizeit verbrachte ...
    Seine Stammkneipe, mitten in der Stadt gelegen, in der er sich gern, besonders an Wochenenden, mit ein paar Jungs zum Pokern traf ...
    Seine Wohnung, die ein umgebauter, geräumiger Wohncontainer war, der am Rande einer Kleingartensiedlung stand ...
     

    Der Tag seiner Abreise rückte näher, und mir wurde flau bei dem Gedanken, dass er bald nicht mehr bei mir sein würde. Ich konnte mir gar nicht vorstellen, wieder ohne Begleitung hinaus in die Natur zu gehen. Und die Stille und das Schweigen ... Würde ich zurückfinden können in meine Abgeschiedenheit? Ich war nun ja nicht mehr allein auf der Welt, ich hatte einen Freund gefunden. Würde ich ihn vermissen? Übrigens bezeichnete ich Boris zu jenem Zeitpunkt in Gedanken zum ersten Mal als meinen Freund. Das war ein großer Schritt. Wobei ich nach wie vor

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