Der Gedankenleser
das über mir schwebende Damoklesschwert verdrängte. Auf mir lag ein Fluch, der alles von einem Moment auf den anderen hätte zerstören können. Über unseren Abschied sprachen wir nicht. Wir taten so, als lägen noch Wochen unbeschwerten Lebens vor uns. Nur manchmal ahnte ich in seinem Blick und seiner Mimik die Traurigkeit über das bevorstehende Ende unseres Zusammenseins, so wie auch ich sicher meine Wehmut nicht gänzlich verbergen konnte.
Und dann war er gekommen: unser letzter Tag. Ich fühlte mich angeschlagen und wusste nicht, wie ich mich verhalten sollte. Und auch er wirkte ernst und nachdenklich. Wir hatten uns bei Tuuli zum Frühstück verabredet und saßen nun schweigend am Tisch. Das Wetter war prächtig und Tuuli ausnehmend freundlich und zuvorkommend, da sie wusste, dass Boris am nächsten Tag würde abreisen müssen. Er sollte wohl sie, das Café und ihre Heimat in besonders guter Erinnerung behalten. Als er sich nach dem Essen seine erste Zigarette ansteckte, sagte er zu mir: »Das war der schönste Urlaub seit einer Ewigkeit.«
Und ich antwortete: »Mir wäre am liebsten, du könntest hierbleiben.«
Er lächelte, trank von seinem Kaffee, stand auf und ging zum Fenster, schaute hinaus. Wir waren inzwischen allein im Raum.
»Ich hätte mir nie vorstellen können, mich nochmal so eng mit jemandem zu befreunden - du wirst mir sehr fehlen«, sagte er.
Ich schluckte, denn ich war derartige Herzensbekundungen von einem Mann nicht gewohnt. Und seine Worte hatten nichts Zweideutiges, deshalb schienen sie mir noch gewichtiger.
»Komm!«, sagte er dann. »Lass uns den schönen Tag nutzen. So warm wie heute war es schon lange nicht mehr. Ist wohl sehr ungewöhnlich für den Spätsommer hier. Was hältst du davon, wenn wir eine Bootsfahrt machen, raus auf den See?«
»Das ist eine super Idee! Ich bin dabei!«
Wir bezahlten bei Tuuli und gingen hinüber zum Lebensmittelladen. Dort konnte man die am Bootssteg liegenden kleinen Kähne anmieten. Wir buchten gleich für den ganzen Tag und machten uns auf den Weg zum Ufer. Genau in dem Moment aber, als wir um eine Kurve gebogen waren und ich freien Blick auf den Bootssteg hatte, durchliefen mich gleich mehrere Schockwellen. Ich analysierte sofort, was ich da sah. Am Steg lag nur noch ein einziges Boot - und genau dieses hatte beinahe Miniaturmaße. Im Grunde war es ein Ein-Mann-Ruderbötchen.
»Na, es hätte auch eine Nummer größer sein können«, kommentierte Boris flapsig. »Aber egal, wir rücken halt zusammen, und dann wird es schon gehen. Komm!«
Mein Herz begann zu stolpern. Jetzt gab es kein Zurück mehr.
Mir war klar, dass ich auf dem Boot den Gedanken meines Freundes Boris nicht würde ausweichen können.
24
Die erste halbe Stunde auf dem Wasser redete ich mehr als in den gesamten letzten Wochen unseres Zusammenseins. Es war der hilflose Versuch, die Stimme abzuwehren oder zumindest zu übertönen. Denn tatsächlich saßen wir so eng beieinander wie noch kein einziges Mal zuvor. Ich befand mich voll und ganz in Reichweite seines Gehirns.
Dann aber versiegte mein Redefluss. Mir fiel nichts mehr ein, und irgendwie kam ich mir bei dem Gequassel auch albern vor.
Was sollte er von mir denken? Aber kaum hatte ich mir diese Frage gestellt, da hörte ich auch schon die Antwort:
Was ist los mit ihm? So kenn ich ihn ja gar nicht. Hat er Angst, dass wir kentern? Er redet komisches Zeug.
Damit hatte Boris völlig Recht. Also schwieg ich. Und auch er sagte nichts, und wir ließen unser Boot treiben. Ein leichter, warmer Wind wehte von Süden über das Wasser, an den Ufern wuchs hier und da üppiges Schilfgras, und in der Ferne standen still die Wälder.
Meine inneren Augen sahen, dass Boris, genau wie ich, in sehr trauriger Stimmung war.
Und dann sagte er: »Bald trennen uns über dreitausend Kilometer - wie wird es weitergehen?«
»Wir werden uns wiedersehen!«, antworte ich schnell, ohne auch nur eine Ahnung davon zu haben, wie und wann das möglich sein könnte.
»Ja, aber bis dahin wird vermutlich noch sehr viel Zeit vergehen.«
Ich freu mich so riesig auf Ann-Katrin, natürlich auch auf Mutter ... aber wenn die beiden nicht wären, ich könnte mir auch vorstellen, hierherzukommen, zu ihm, hier zu leben.
Ich bekam eine Gänsehaut.
»Wir werden uns viel schreiben«, sagte ich.
»Auf jeden Fall!«
Aber schreiben ist nicht wie reden, wie zusammen sein, wie zusammen wandern, wie zusammen lachen.
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