Der geduldige Tod (German Edition)
nahestand, und sie wollte niemanden kennen. Sie hatte das Vertrauen verloren.
»Heute wieder Tomaten?«, fragte hinter einem Gemüsestand eine klangvolle Stimme auf Deutsch, jedoch mit einem starken Akzent. Sie gehörte zu einem jungen Mann Ende Zwanzig, mit dunklen, lockigen Haaren und einem frechen Grinsen. »Ich gebe sie Ihnen zum halben Preis, wenn Sie mit mir ausgehen.«
Sie verzog den Mund. »Nein, immer noch nicht.«
»Dann bekommen Sie sie gratis für ein Lächeln. Ich schenke Ihnen die Tomaten, wenn Sie mich endlich einmal anlächeln.«
Ihr Mund blieb wie er war. »Auch das nicht. Ich werde die Tomaten wie immer gern bezahlen.«
Der junge Mann tat enttäuscht. »Wann geben Sie denn endlich nach? Seit drei Monaten kommen Sie her, kaufen meine Tomaten und ich bekomme nicht einmal ein Lächeln von Ihnen.« Er stemmte die Hände in die Hüften, als würde er sich über ihre Dickköpfigkeit empören.
»Warum geben Sie nicht auf?«, erwiderte sie. »Seit drei Monaten wollen Sie unbedingt ein Lächeln von mir sehen oder mit mir ausgehen, aber bekommen weder das eine noch das andere. Warum fragen Sie nicht endlich eine andere?«
»Weil die anderen nicht so schön sind wie Sie«, sagte er.
Jetzt lachte sie. Es sollte spöttisch klingen, kam bei ihrem Gegenüber allerdings nicht so an.
Der junge Mann jubelte. »Sehen Sie? Ich habe es geschafft. Sie haben gelacht. Endlich! Heute ist der Tag der Tage! Das bedeutet, dass Sie mich auch mögen. Wenigstens ein kleines bisschen.«
Sie schüttelte den Kopf. »Bilden Sie sich nur nichts ein. Ich habe gelacht, weil ich Ihnen kein Wort glaube. So etwas sagen Sie bestimmt jeder Frau.«
»Nein, das ist nicht wahr. Das sage ich nur, wenn es stimmt. Sie sind wunderschön. Sie sind mir schon aufgefallen, als sie das erste Mal hier waren. Sie haben nichts gekauft, sondern sind nur herumgegangen und haben sich alles angesehen.«
Sie hielt erstaunt inne. Er hatte Recht. Sie hatte erst bei ihrem dritten oder vierten Besuch auf dem Markt angefangen, etwas zu kaufen. Auch der junge Mann war ihr aufgefallen, weil er so warme, braune Augen hatte, in deren Blick ein leiser, trauriger Schatten lag. Und weil er sie so nett angesprochen hatte. Auch wenn sie es nicht zugeben wollte, er war der Einzige, der ihr ein gewisses Gefühl der Nähe auf dieser heißen Insel vermittelte.
Doch sie hatte darauf nicht reagiert, genauso wenig wie auf seine zahllosen Anmachen danach. Heute war das erste Mal, dass sie sich auf ein kurzes Gespräch mit ihm einließ. Vielleicht sollte sie das als ein gutes Zeichen nehmen. Ein Zeichen dafür, dass ihr Plan aufgehen würde.
»Ich wollte mir damals einen Eindruck von dem Markt verschaffen.«
»Das ist auch gut so.« Er sah sie mit großen Augen an, als würde er noch eine weitere Antwort erwarten. Doch als sie nichts mehr sagte, gab er auf. »Wie viele Tomaten wollen Sie?«
Sie nahm nur ein Pfund. Mehr konnte sie nicht verbrauchen. Und außerdem besaß sie dadurch einen Grund, bald wieder hier einkaufen zu gehen. Als sie sich bei dem Gedanken ertappte, errötete sie leicht und sah schnell zu den Tomaten, die knackig, prall und reif in der Sonne glänzten.
Er reichte ihr die Tüte mit den roten Früchten. Als sie ihm das Geld geben wollte, rutschte der Ärmel ihrer Jacke ein wenig zurück. Eine dicke, rote Linie spannte sich um ihr Handgelenk. Ungeschickt zerrte sie mit der anderen Hand an dem Ärmel, um die Narbe zu verdecken. Ihre Finger gehorchten ihr noch immer nicht richtig. Sie blieben oft kalt und taub und bewegten sich nur unwillig, trotz langer Therapie und endloser Übungen in der Reha.
Er sah die Linie, sagte aber nichts. Stattdessen schob er das dargereichte Geld beiseite.
»Ich habe gesagt, ich schenke sie Ihnen, wenn Sie lächeln. Sie haben gelächelt.«
Sie schüttelte den Kopf, doch der junge Mann blieb hartnäckig. »Ich will dein Geld nicht. Wirklich nicht. Ich hoffe allerdings, du kommst wieder.«
Ihr fiel auf, dass er sie plötzlich geduzt hatte. Doch sie nahm es hin. Zögerlich steckte sie das Geld zurück. »Danke«, sagte sie und versuchte ein Lächeln. Eins, das nur für ihn bestimmt war.
Er sah es und nickte grinsend. »Wow, noch ein Lächeln. Das zählt ja schon fast wie eine Einladung zum Tomatenessen.« Als sie daraufhin die Lippen zu einer schmalen Linie verzog, um es zu ersticken, lenkte er schnell ein. »Keine Angst, ich warte noch drei Monate bis zu meinem nächsten Vorstoß, vielleicht erfahre ich ja dann deinen
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