Der geduldige Tod (German Edition)
Lücke, die ihr die Aussicht auf das Wasser erlaubte, schien ihr wie der Blick durch ein Schlüsselloch. Die heimliche Aussicht auf ein fernes, schöneres Leben, auf Heiterkeit und Sorglosigkeit, auf eine Zukunft, in der ihr die Vergangenheit keine Albträume und Panikattacken mehr bescherte. Sie konnte die Sonne erahnen, die in den Wellen tanzte, das Lachen der Kinder am Strand und das Glitzern der Gischt, das Knirschen des feinen, weißen Sandes unter den Füßen und das Gefühl des Wassers, wenn es leicht und sanft ihre Knöchel umspülte.
Plötzlich spürte sie Verlangen nach dem Strand, nach der Leichtigkeit des Seins, das die Urlauber ausstrahlten. Der Dunst von gebratenem Fisch mit Knoblauch wehte in ihre Nase, wie er in den Bars und Restaurants am Strand serviert wurde. Der Geruch von Algen und Muscheln im seichten Meerwasser kam dazu. Sie wusste, die Wahrnehmungen kamen lediglich aus ihrem Kopf, doch sie fühlten sich an, als würden sie tatsächlich durch die Pinienwälder und Olivenhaine zu ihr herüber wehen. Vielleicht würde sie später einen Ausflug hinunter ans Meer machen. Sie war erst zweimal dagewesen. Das erste Mal, kurz nachdem sie angekommen war und den Ort am Fuße der Berge kennenlernen wollte. Das zweite Mal, als ihre Vermieterin ihr eine Eintrittskarte für ein Open-Air-Konzert am Strand geschenkt hatte und sie zu höflich war, abzulehnen. Das Konzert wurde von einem Kammerorchester vorgetragen, das zum Rauschen der Wellen Mozart und Beethoven spielte. Die Touristen liebten es. Victoria jedoch war nach einer halben Stunde wieder gegangen, weil sie auf einmal Atemnot spürte. Ihr Herz hatte zu rasen begonnen, ihre Hände zu zittern. Für eine solche Veranstaltung inmitten fremder Menschen, unbekannter Männer, enger Gassen und unheimlicher Hauseingänge war es noch zu früh gewesen. Doch inzwischen fühlte sie sich etwas stärker. Es musste ja keine Großveranstaltung sein, aber einen Spaziergang am Nachmittag, am Strand entlang Richtung Hafen, konnte sie ruhig wagen.
Sie ging zurück in die Küche, um sich einen Kaffee zu kochen, als das Telefon klingelte. »Ein Anruf von Selene«, sagte der Apparat mit blecherner Stimme. Dann klingelte es erneut.
»Ein Anruf von…«
»Hallo Schwesterchen«, sagte Victoria in den Hörer. »Guten Morgen.«
»Guten Morgen«, erwiderte Selene am anderen Ende der Leitung. »Du klingst so munter und ausgeschlafen. Die mediterrane Sonne scheint dir wirklich zu bekommen.«
»Nicht nur die Sonne. Ich habe das Gefühl, es funktioniert. Die Abwechslung tut mir gut. Ich denke, es war die richtige Entscheidung. Es ist wirklich heilsam, an nichts erinnert zu werden.«
»Nicht mal an deine eigene Familie.« Selene gab sich Mühe, nicht zu bitter und verletzt zu klingen. Sie hatten schon unzählige Male über Victorias Umzug auf die spanische Insel gesprochen, über ihren radikalen Entschluss, der Heimat den Rücken zu kehren, um genesen zu können.
»Es steht euch frei, mich jederzeit zu besuchen«, antwortete Victoria. »Bitte, Selene, fang nicht wieder mit der alten Leier an. Es ist gut, dass ich weggegangen bin. Ich habe das Gefühl, das erste Mal seit zwei Jahren wieder durchatmen zu können.«
»Du klingst heute auch wirklich anders«, lenkte die Schwester in der Heimat ein. »Besser. Fast ein bisschen fröhlich. Fast.«
Victoria verzog den Mund zu einem Lächeln. »›Fast‹ ist schon mal ein guter Anfang. Wie geht es dir? Und den Kindern?«
»Sammy hat vorige Woche mit dem Fußballtraining angefangen. Er ist ganz stolz auf sein Trikot. Jetzt ist es allerdings vorbei mit entspannten Wochenenden, er hat jeden Samstag ein Turnier oder Freundschaftsspiel. Das ist ein hartes Programm für einen Achtjährigen. Und Dori liebt ihre neue Kindergärtnerin. Sie versucht, jetzt immer so zu sein wie sie, redet wie sie und will Kleider tragen wie sie. Sehr lustig. Du müsstest sie sehen. Sie ist in den letzten Wochen sehr gewachsen.«
»Das glaube ich dir. Ich vermisse sie, ich vermisse euch alle.« Bei diesen Worten spürte Victoria einen Kloß im Hals. Auch wenn ihr die Einsamkeit in dem fremden Land guttat, war sie auf der anderen Seite sehr schmerzhaft. Sie liebte ihren Neffen und die Nichte. Wie auch ihre Eltern und die Schwester, die nur zwei Jahre älter war als sie. Als Kinder waren Selene und sie unzertrennlich gewesen, hatten sich gegenseitig jedes Geheimnis anvertraut. Sie hatten sich sogar einmal einen Jungen als Verehrer geteilt. Dann begann Selene
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