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Der gefangene Stern

Der gefangene Stern

Titel: Der gefangene Stern Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nora Roberts
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sie.“
    „Verbrechen sind Verbrechen?“
    „Nicht so ganz. So sieht das die Polizei. Aber mit der richtigen Einstellung ist es genauso befriedigend, einen Vater aufzuspüren, der nicht für sein Kind bezahlt, wie einen Typ, der seinen Geschäftspartner erschossen hat. Beide kann man finden, wenn man sie gut genug kennt. Außerdem sind die meisten dumm und haben Gewohnheiten, die sie nicht lassen können.“
    „Wie zum Beispiel?“
    „Ein Typ greift an seinem Arbeitsplatz in die Geschäftskasse, wird erwischt und auf Kaution freigelassen. Dann haut er ab. Sehr wahrscheinlich hat er Freunde, Familie, eine Geliebte. Es wird nicht lange dauern, bis er jemanden um Hilfe bittet. Die meisten Menschen sind keine Einzelgänger. Das glauben sie vielleicht, sie sind es aber nicht. Irgendetwas zieht sie immer zurück. Sie führen ein Telefongespräch, besuchen jemanden oder schreiben einen Brief. Nehmen wir deinen Fall.“
    Überrascht runzelte sie die Stirn. „Ich habe nichts getan.“
    „Das ist nicht das Thema. Du bist eine kluge Frau, sehr selbstständig, aber du wolltest sofort deine Freundinnen anrufen.“ Er lächelte sie über seine Gabel hinweg an. „Um genau zu sein, hast du das auch getan.“
    „Und was ist mit dir? Wen würdest du anrufen?“
    „Niemanden.“ Sein Lächeln erlosch. Er aß weiter, während die Bedienung Kaffee nachschenkte.
    „Keine Familie?“
    „Nein.“ Mit der Hand zerteilte er ein Stück Speck in zwei Hälften. „Mein Vater ist abgehauen, als ich zwölf war. Meine Mutter hat daraufhin die ganze Welt gehasst. Ich habe einen älteren Bruder, der mit achtzehn zur Armee gegangen ist. Und er hat beschlossen, nicht mehr zurückzukommen. Ich habe seit zehn oder zwölf Jahren nichts mehr von ihm gehört. Und kaum war ich auf dem College, betrachtete meine Mutter ihren Job als erledigt und hat die Kurve gekratzt. Man könnte sagen, dass wir keinen Kontakt halten.“
    „Tut mir leid.“
    Er zog die Schultern zurück, verärgert über ihr Mitgefühl und darüber, dass er überhaupt über seine Familie gesprochen hatte. Normalerweise tat er das nicht. Niemals. Mit niemandem.
    „Du hast deine Familie all die Jahre nicht gesehen“, fuhr sie fort, unfähig, ihre Neugier zu unterdrücken. „Du weißt nicht, wo sie sind – und sie wissen nicht, wo du bist?“
    „Wir haben uns nicht gerade nahegestanden und auch nicht genug Zeit miteinander verbracht, um als dysfunktional durchzugehen.“
    „Aber trotzdem …“
    Er schnitt ihr das Wort ab. „Ich denke, es liegt einem im Blut. Manche Leute bleiben einfach nicht an einem Ort.“
    Schön, dachte sie, seine Familie ist also sein wunder Punkt, ob er es nun weiß oder nicht. „Und du, Jack? Wie lange bist du an einem Ort geblieben?“
    „Das ist ja das Schöne an meinem Job. Man weiß nie, wo man als Nächstes sein wird.“
    „Das habe ich nicht gemeint.“ Sie blickte ihm prüfend ins Gesicht. „Und das weißt du sehr gut.“
    „Ich hatte nie einen Grund, irgendwo zu bleiben.“ Ihre Hand lag auf dem Tisch, nur wenige Zentimeter von seiner entfernt. Er war versucht, sie zu ergreifen und einfach nur zu halten, und das besorgte ihn. „Ich kenne eine Menge Leute. Aber ich habe keine Freunde – nicht so wie du. Viele von uns leben ohne so etwas, M.J.“
    „Ich weiß. Aber willst du das?“
    „Ehrlich gesagt, habe ich nie besonders viel darüber nachgedacht.“ Er rieb sich mit beiden Händen über das Gesicht. „Gott, ich muss vielleicht müde sein. Morgens um fünf in einem zwielichtigen Restaurant herumzuphilosophieren.“
    Sie blickte durch das Fenster in den im Osten langsam dämmernden Himmel und auf die bereits belebten Straßen. „Und durch die lange Straße nun kroch grau der Tag …“
    „Auf Silberschuhen wie ein verschüchtert Mädchen her“, beendete er den Satz.
    „Woher kennst du das? Was hast du eigentlich auf dem College studiert?“
    „Alles, wozu ich Lust hatte.“
    Da lachte sie. „Ich auch. Meine Studienberater sind fast wahnsinnig geworden. Keine Ahnung, wie oft mir gesagt wurde, dass ich orientierungslos wäre.“
    „Aber du kannst morgens um fünf Oscar Wilde zitieren, mit einer .38er schießen, einen Mann niederschlagen, du isst wie ein Scheunendrescher, kennst dich mit antiken römischen Göttern aus und fluchst wie ein Kesselflicker.“
    „Da sitzen wir also, Jack, zwei Menschen, von denen die meisten sagen würden, dass sie für ihre Berufe überqualifiziert sind, trinken zu einer gottlosen Zeit Kaffee,

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