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Der gefrorene Rabbi

Der gefrorene Rabbi

Titel: Der gefrorene Rabbi Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Steve Stern
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Hals zu lösen, nahm es ihr nicht übel. Wenn überhaupt, spürte er eine Sehnsucht nach den Flüchen, mit denen ihn sein Vater zu überschütten pflegte.
    »A finzter, mögen deine Hoden bald läuten deine Totenglocke!«
    Während sie weiter Gift und Galle spie, nahm sie, ohne sich zu erkundigen, was in dem Sarg war, das Geschirr auf und half Salo, den Karren über den zerfurchten Weg zu ziehen. Im Namen ihrer ermordeten Familie und ihrer selbst beschimpfte Bascha Pua Bendit Bankdrücker ihren Retter wie auch den Gott Abrahams wegen seiner unhöflichen Behandlung jüdischer Töchter. Sie bejammerte ihre verlorene Mitgift - die aus mehreren Zinnlöffeln, einer Milchkuh und einem Eliasstuhl bestanden hatte - und schmähte die Welt, die sie um ihr Recht geprellt hatte. Während er sich an der Musik ihrer spitzen Zunge erfreute, fragte sich Salo, wie sie wohl mit ein paar Pfunden mehr aussehen mochte, vermutete jedoch, dass ihre Knochen nie viel Fleisch anlegen würden. Aber auch wenn dieser Vettel noch so viel Essig durch die Adern rann, auch wenn sie mindestens zehn Jahre älter war als er, sie war trotzdem eine Frau, und da ihm weiblicher Umgang völlig fremd war, war Salo sehr aufgeregt, und seine Einsamkeit verflog.
    Obgleich erwärmt von ihrer Litanei von Klagen, wagte es der junge Mann, sie mit schüchterner Förmlichkeit zu unterbrechen. »Mit allem gebotenen Respekt möchte ich vorschlagen, dass wir heiraten anstandshalber so bald wie möglich.«
    Bascha Pua fauchte über die Demütigung, gegen ein Pferd eingetauscht worden zu sein, und über all die zukünftigen Kränkungen, die sie in seiner erbärmlichen Gesellschaft gewiss zu gewärtigen hatte, doch sie ließ sich ungnädig herbei, Salos Antrag anzunehmen.
     
    Unter dem zerlumpten Baldachin von Salos Gebetsmantel wurden sie am Straßenrand von einem verarmten galizischen Rabbi vermählt. Dieser durfte dafür einen Blick auf das Boibiczer Wunder werfen, über das ihm im Zuge seiner Reisen Gerüchte zu Ohren gekommen waren. Er hatte gehört, dass das Wunder in einen riesigen blauen Saphir eingeschlossen war, und zeigte sich entsprechend enttäuscht. Den Trauzeugen machte der tölpelhafte Sohn des Rabbis, und da es an einem Kelch fehlte, mussten sie sich mit dem silbernen Fingerhut von Salos Mutter behelfen, den der Bräutigam mit dem Absatz in den spröden Schlamm trat. In den Nächten schliefen die Frischverheirateten, wo immer sie einen Platz fanden: auf dem splitterigen Boden eines verlassenen Zollhauses, zwischen den Dachsparren einer Sägemühle mit einem eingefrorenen Wasserrad und einmal, als sie zwischen zwei schtetlech gestrandet waren, sogar im offenen Karren neben dem kalten Sarg, wo sie sich verzweifelt aneinanderklammerten, um sich ein wenig zu wärmen. Und obwohl Salo von seiner zanksüchtigen Gattin unaufhörlich gescholten wurde - »Stößt du mich von einer Erniedrigung in die nächste!« -, war sie schwanger, als sie in Lodz eintrafen.
    Die Stadt, die er unter solch großen Mühen erreicht hatte, hatte für Salo eine goldene Aura angenommen. Doch das überfüllte jüdische Viertel namens Balut war keineswegs von Heiligen bevölkert, sondern von Lumpensammlern, Leierkastenmännern, professionellen Krüppeln, Prostituierten und Dieben, ganz zu schweigen von den Legionen von Geschundenen, die in den Seidenspinnereien und Färbereien an den Ufern des schwefeligen Flusses Warthe schufteten. Der Rauch aus den Fabriken hing als malvenfarbenes Miasma über der Stadt und ballte sich in den gewundenen Gassen des Balut, dessen Bewohner den hartnäckigen Gestank in den Falten ihrer Kleider trugen. Wie sich entrollende menschliche Spulen zogen die arbeitenden Kinder Fäden für die Seidenraupenzucht nach Hause, und aus ihren Taschen quollen Raupen, die in den Dachböden ihrer heruntergekommenen Quartiere fantastische Jakobsleitern spannen. In den Arkadenstraßen dampfte ein Morast aus Pferdeexkrementen und dem Blut geschlachteter Tiere, die in Schaufenstern hingen oder zerteilt und ausgebreitet in Verkaufsbuden lagen. Doch mochte das Getto noch so sehr einer übelriechenden Jauchegrube ähneln, Salo Frostbissen, der innerlich jubelte über die dort herrschende Karnevalsatmosphäre, hätte man nicht davon überzeugen können - eine Haltung, die seine Frau nur noch mehr in Harnisch brachte.
    Es beeindruckte sie auch nicht, dass Salos Ruf ihrer Ankunft im jüdischen Viertel vorausgeeilt war, wo sich sogleich hoffnungsfroh eine Schar frommer Seelen um den

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