Der gefrorene Rabbi
pferdelosen Karren scharte. Mit ihren Gebetsmänteln berührten sie den Kasten des rebbe und küssten sie anschließend, als wäre der Sarg ein tragbarer Schrein. Sie erklärten es für ein Wunder, dass der Rabbi die Reise unversehrt überstanden hatte - der Beweis für die Kräfte, über die der zadik selbst noch im Schlummer verfügte. Bascha Pua, die ihren Mann auf der gesamten Fahrt wegen der Nutzlosigkeit dieser Last in den Ohren gelegen und sich darüber beschwert hatte, dass sie obendrein noch beim Transport hatte mithelfen müssen, weigerte sich nach wie vor standhaft, in den Sarg zu schauen. Aufgrund ihrer praktischen Denkweise fand sie es jedoch durchaus angemessen, dass jene, die einen Blick riskieren wollten, für diese besondere Ehre ein kleines Scherflein entrichten sollten. Doch Salo hatte sich von seinem Heldenempfang ein wenig den Stoppelkopf verdrehen lassen, und obwohl er fürchtete, dass eine übermäßige Zurschaustellung Elieser ben Zephirs Heiligkeit vermindern könnte, zeigte er den rebbe jedem, der darum bat.
Auch so blieben die Dividenden nicht aus: Salman Pisgat, der Besitzer des mit Türmchen bewehrten Eishauses in der Franciszkanskastraße (neben dem Josls Eisgrotte nur ein Loch in einem Berg war) bat um die Ehre, das Boibiczer Wunder im Schoß seines Unternehmens beherbergen zu dürfen. Zugleich versprachen die wohltätigen Mitglieder des Flüchtlingshilfevereins, den Neuvermählten ein »gemütliches kleines Nest« zu beschaffen. Eine Weile hatte es den Anschein, als sollte das Ehepaar als Honoratioren und als Stolz des Gettos behandelt werden, und Salo, an dem noch der schmuz der Straße klebte, sonnte sich in seinem triumphalen Einzug in Lodz, der das märchenhafte Ende eines großen Abenteuers darstellte. Doch da seine Ankunft die Armut des Viertels in keiner Weise linderte und sich die Aufmerksamkeit der Bewohner wieder ihren täglichen Nöten zuwandte, waren der Sohn von König Cholera und sein gefrorener zadik schon bald vergessen. Salos Ruhm überlebte nicht einmal seine erste Woche in der Stadt.
Sie bezogen ein billiges Quartier in der Zabludevestraße, eine fensterlose Kellerwohnung, die Salo lobte, weil sie im Vergleich mit der Grotte seines Vaters gut abschnitt (allerdings war es nicht weniger feucht und kalt), und die seine Frau zu Recht als entsetzlich enge Höhle verfluchte. Und auch Salman Pisgats Dankbarkeit für die mizwe, den gefrorenen rebbe aufbewahren zu dürfen, war nur von kurzer Dauer. Er bot Salo eine Stellung als Nachtwächter an, allerdings unter der Bedingung, dass ein Teil seines Wochenlohns als Gebühr für die Einlagerung des Rabbis einbehalten wurde. Dass Salo bereitwillig in diesen Pachtvertrag einwilligte, dass er den Eisblock mit dem Heiligen nicht einfach in den Fluss warf, um ihn endlich loszuwerden, waren Vergehen, die Bascha Pua auf die immer länger werdende Liste der Schandtaten ihres Mannes setzte.
Salo selbst war ein wenig enttäuscht, dass sein Ruhm so schnell vergangen war, doch er schalt sich für seine Eitelkeit. Und nachdem er mehrere Nächte mit seiner Sturmlampe die Schatten in Pisgats Eishaus vertrieben hatte und unter den glasigen Blicken toter Ochsen, Lachse und Hasen zwischen den Kristallpalisaden umhergestreift war, fand er sich wieder mit dem Gedanken an die niemals endende Inkubation des alten Elieser ab. Zufrieden verbrachte er die Zeit zwischen den Rundgängen durch das hyperboräische Gelände wachend als Hüter des Heiligen und war bereit, bis zum Einfrieren der Hölle darauf zu warten, dass der rebbe aus seiner Eislarve schlüpfte.
Was scherte es ihn, wenn das Getto ein Pestloch war, wo er und seine pferdegesichtige Frau keine zwei groschnß besaßen, wo sie sich von schlaffen, in heißem Wasser schwimmenden Kohlblättern ernährten und sich in einem Hofabort erleichterten, dessen Gestank einem die Tränen in die Augen trieb? Nach Salos Ansicht war das Balut mit seiner rastlosen Betriebsamkeit ein Elixier für alle, die dort hausten. Und war ihm nicht überdies das Beste zweier Welten beschieden? Bei Tag war er ein solider Haushaltsvorstand, der zusammen mit seiner schwangeren Frau das Gebot der Ehe und der Vermehrung befolgte; und bei Nacht zog er sich vom Gewimmel der Straße zurück und war der einsame Wächter einer Legende, deren Glanz immer heller erstrahlte, je mehr sie in Vergessenheit geriet.
Bascha Pua hingegen wetterte mit jedem Atemzug gegen ihr Los und fluchte auf den leicht zu beeindruckenden Geist ihres
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