Der gefrorene Rabbi
übte auf jeden Juden, der ihn erblickte, eine moralisch erbauliche Wirkung aus. Bascha Pua nannte ihn einen unverbesserlichen Narren, dann beschimpfte sie ihn als triebhaften Gnom, weil er sie schon wieder geschwängert hatte.
»Wie konnte das passieren?«, wollte sie wissen. »Wann wir beide sind überhaupt im Bett zur gleichen Zeit?«
Doch wenngleich die eheliche Matratze zwischen den knarrenden Latten bis zum irdenen Boden durchhing und nur wenige Schritte entfernt war von dem Lehmofen, auf dem die Zwillinge schliefen, gab es genügend Gelegenheiten. Und wenn Salo sie in ihrem dringend benötigten Schlaf störte, fauchte Bascha Pua zwar und klagte über das Los der Frauen, doch wies sie ihren Gatten kein einziges Mal zurück.
Diesmal war das Kind ein rosiges Töchterchen, das sie Jochebed nannten, und Salo sonnte sich im strahlenden Licht ihres Antlitzes. »Schau nur«, rief er, »leuchtet sie wie das n’er tamid!« Was wusste er denn schon über das ewige Licht, entgegnete seine Frau, so selten setzte er den Fuß in eine Synagoge. Doch das war ungerecht. Für einen Mann, der Tag und Nacht arbeitete, hatte Salo den schabeß immer so gut wie möglich eingehalten. Wenn auch nur aus Gewohnheit, tauchte er in der vorgeschriebenen Weise in das brackige Wasser in der mikwe an der Vladastraße und besuchte an hohen Feiertagen die schul. Er schätzte sich über die Maßen glücklich, als er einen heruntergekommenen minjen (dessen Mitglieder so anrüchig aussahen wie die Teilnehmer einer polizeilichen Gegenüberstellung) zusammentrommeln konnte, um bei Jochebeds Geburt und abermals beim Fest der Namensgebung die traditionellen Gebete zu sprechen. Die Gebete richteten sich zwar an Gott, aber seine eigentliche Dankbarkeit galt dem seligen Rabbi Elieser ben Zephir. Nicht dass er den rebbe als Gott verehrt hätte - so heidnisch war er nicht; doch nachdem er jahrelang den Sargdeckel angehoben und den liegenden zadik so oft angeschaut hatte, um sich von dessen Unversehrtheit zu überzeugen, stellte sich Salo bisweilen vor, durch die Augen des Wundertäters (die immer fest verschlossen blieben) auf den rasch alternden Nachtwächter zu blicken. Manchmal hatte er das Gefühl, die Welt aus dem Eisblock und aus einem prismatischen Blickwinkel zu betrachten, der alles glanzvoll und heilig erscheinen ließ. Doch wenn er fern vom Eishaus die Arbeiten verrichtete, die sein Rückgrat beugten und seine Tränensäcke anwachsen ließen, fragte sich Salo, ob er und der Rest der Welt vielleicht nur Fantasiegebilde aus dem Traum des Rabbis waren.
Im Lauf der Jahre drangen die Gerüchte von wankenden Imperien und einer drohenden Apokalypse sogar in die Unterwelt des Balut vor. Wie üblich prophezeiten die graubärtigen alten kakerß die Ankunft des moschiach, den herbeizusehnen ihre Hauptbeschäftigung war, und je schlimmer die Lebensbedingungen der Juden wurden, desto stärker wurde ihre Überzeugung, dass die Ankunft des Messias unmittelbar bevorstand. Aber die Jüngeren deuteten die Zeichen meist anders, und viele hatten die Nase voll von einer Religion, die sich nur um Künftiges und Leiden drehte, die man in der endlosen Wartezeit zu erdulden hatte. In Kellercafés und schtiblß, wo Druckerpressen den Thoraschrein verdrängt hatten, flüsterten sie aufrührerische Parolen und schmiedeten verschwörerische Pläne.
Die Frostbissen-Zwillinge Jachne und Jojne gehörten zu jenen, die vom revolutionären Fieber gepackt wurden. Sie hatten sich nie darum gekümmert, unterschiedliche Identitäten auszubilden, und trotz ihrer noch jungen Jahre waren sie bereits erfüllt vom Gebräu der Laster, die das Getto bot. Mit der gleichen Unbekümmertheit, mit der sie gemeinsam eine Flasche geschmuggelten Kognak leerten oder bei einer Partie schtuß mitwetteten, hatten sie sich Frauen geteilt. Und nun, empfänglich für vornehmere Leidenschaften, waren sie für die Doktrin des radikalen Wandels entbrannt. Sie schlossen sich dem Sozialistischen Arbeiterbund an und verteilten an den Straßenecken des Balut marxistische Pamphlete, obwohl sie selbst kaum lesen konnten. Unter Verwendung der vorherrschenden Rhetorik eiferten sie gegen die kapitalistischen Kakerlaken in den Reihen ihres Volks. »Sobald die jüdischen Unternehmer beenden ihre blutsaugerische Ausbeutung, werden wir sie betrachten als gleichberechtigte Partner im proletarischen Kampf für ein unabhängiges Polen!« Und so weiter. Während sie kaum einen Finger gerührt hatten, um ihre Eltern in
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