Der geheime Auftrag des Jona von Judaea
Säulengangs. Michaja erkannte ihn sofort. Und herrisch fuhr er ihn an: »Was hast du hier auf dem Gang zu suchen?«
»In mir rumort es, dass es kaum noch zum Aushalten ist«, stieß Jona gepresst hervor. »Ich muss irgendetwas gegessen haben, was mir nicht bekommen ist.«
»Na und?«, erwiderte Michaja barsch. »Pass nächstens besser auf, was du in dich hineinschlingst! Und jetzt zurück mit dir! Du hast hier nichts zu suchen!«
»Aber ich muss auf die Latrine! Ich kann es nicht mehr viel länger halten! Bitte, lass mich hinunter!«, flehte Jona mit leidender Stimme und bemerkte im selben Augenblick seinen Gefährten. Timon ließ sich drei, vier Schritte hinter dem Aufseher lautlos von der Dachkante herab, setzte die nackten Füße behutsam auf die Brüstung der Galerie und stand im nächsten Moment auf dem Gang. Und während er sich von hinten anschlich, holte er den Krug unter seinem Gewand hervor, zog das Kopftuch heraus, wickelte es um das Steingefäß und packte den Henkel mit festem Griff.
»Kommt gar nicht infrage!«, antwortete Michaja schroff. »Benutz gefälligst einen der Eimer, die ihr für eure Notdurft bei euch im Quartier stehen habt!«
»Aber ich kann doch unmöglich…!«, begann Jona, führte den Satz jedoch nicht mehr zu Ende. Denn in diesem Moment stand Timon auch schon hinter Michaja, hob die Hand mit dem tuchumwickelten Krug und schlug zu.
Das Gefäß krachte auf Michajas Hinterkopf.
Gleichzeitig riss Jona seine Mantelrolle hoch, stieß sie dem auf ihn zutaumelnden Aufseher ins Gesicht und erstickte dessen Aufschrei, der jäh abbrach, als Michaja das Bewusstsein verlor.
Jona ließ augenblicklich die Mantelrolle los und fing den in sich zusammenfallenden Mann auf, bevor dieser auf dem Boden aufschlagen und durch einen lauten Aufprall jemand wecken konnte. Vorsichtig ließ er den schlaffen Körper gegen die Wand der Brüstung sacken.
»So, jetzt ist der Weg nach unten in den Hof frei!«, stieß Timon voller Genugtuung hervor und kniete sich zu Jona und dem bewusstlosen Aufseher auf den Boden.
»Himmel, was habe ich für eine Angst um dich ausgestanden, als du aus dem Fenster geklettert bist!«, erwiderte Jona gedämpft. Zum ersten Mal glaubte er wirklich daran, dass ihnen die Flucht gelingen könnte.
»Bin auch nicht versessen darauf, das noch einmal zu wiederholen«, flüsterte Timon, wickelte den Krug aus dem Tuch und knotete es sich an seinen Gürtel. »Und jetzt sieh zu, dass du uns ein Seil von unten besorgst. Je eher wir von hier verschwinden, desto besser! Ich kümmere mich indessen um Michaja. Wenn er wieder zu sich kommt, wird er sich gut verschnürt an Henochs Seite wiederfinden.«
»Bin schon auf dem Weg!«
6
Lautlos wie ein Schatten huschte Jona an der Wand entlang. Er passierte die geflochtenen Türen von drei anderen Schlafräumen und gelangte so ans Ende des Traktes, wo eine steile Holzstiege auf das Dach führte. Rechts davon ging es über die breite, geländerlose Steintreppe hinunter in den Hof.
Mit höchster Wachsamkeit schlich er die Treppe hinunter. Auf einer der letzten Stufen blieb er stehen, um zu lauschen und sich zu vergewissern, dass er nichts zu befürchten hatte. Hier unten im Innenhof ließ sich die nächtliche Dunkelheit nur wenige Schritte weit mit den Augen durchdringen. Von dem Mondlicht, das ihnen im Obergeschoss eine große Hilfe gewesen war, drang kaum etwas in den Hof des Gevierts hinunter. Zu hoch stiegen die mächtigen Mauern auf allen vier Seiten auf.
Jona ging vorsichtig und mit jagendem Herzschlag weiter. In seinem Gedächtnis rief er sich noch einmal die Stelle zurück, an der er am Abend mehrere sorgfältig aufgerollte Seile gesehen hatte. Und er erinnerte sich genau, wo er zu suchen hatte! Die Seile, die der Treppe am nächsten lagen, hatte er auf einer großen, klobigen Futterkiste bei der fünften Säule rechts von der Treppe liegen gesehen!
Mit diesem Bild vor Augen tauchte er in die Schwärze der Säulengalerie zu seiner Rechten ein. Behutsam tastete er sich vorwärts. Er setzte nur ganz langsam einen Fuß vor den anderen, um in der Dunkelheit nicht über irgendein Gefäß, eine Gerätschaft oder sonst etwas zu stolpern und dadurch verräterischen Lärm zu verursachen.
Akiba beherbergte in seiner Karawanserei in dieser Nacht zwei große Handelskarawanen sowie eine Anzahl von Kaufleuten, die sich in kleinen Gruppen mit gut beladenen Ochsengespannen und Mauleseln auf Reisen befanden. All diesen Leuten war ein angeborenes
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