Der geheime Auftrag des Jona von Judaea
Wir haben doch all unsere Sachen. Wir müssen los, Jona! Die Zeit drängt! Wir hätten schon längst auf und davon sein sollen. Jede Minute Vorsprung kann über Erfolg oder Scheitern unserer Flucht entscheiden!«
»Ja, ich weiß. Aber wir können die anderen doch nicht im Stich lassen«, wandte Jona ein. »Wenn wir sie nicht warnen, dass Berechja uns nicht nach Sepphoris auf eines seiner dortigen Güter bringen will, sondern uns auf dem Sklavenmarkt von Tyrus zu verkaufen gedenkt, ist ihr Schicksal besiegelt. Willst du sie blind in ihr Verderben laufen lassen? Willst du Berechja diesen Gefallen tun?«
»Nein, will ich natürlich nicht«, murmelte Timon widerstrebend. »Aber manchmal kann man nicht die ganze Welt retten, sondern nur sich selbst... und vielleicht noch einen anderen.«
»Mag sein, aber ich kann mich nicht ohne Warnung einfach aus dem Staub machen«, beharrte Jona. »Ob die anderen auch die Flucht wagen wollen, ist dann allein ihre Entscheidung.«
»Also gut, wenn du meinst, es tun zu müssen. Aber beeil dich! Und weck nicht die ganze Gruppe auf, sondern nur einen von ihnen, sonst gibt es einen Heidenlärm, und dann sind auch wir geliefert!«, riet Timon ihm noch.
»Keine Sorge, ich wecke nur Simon auf. Der hat Frau und Kind und behält bestimmt einen kühlen Kopf. Er soll die Warnung und den Hinweis auf das Seil hier oben an den Nächsten weitergeben«, beruhigte Jona ihn und kletterte wieder vom Dach.
Michaja und Henoch lagen noch immer gefesselt und geknebelt hinter der Tür der Gemeinschaftsunterkunft. Timon hatte sie aneinander gebunden, aber so, dass sie sich nicht gegenseitig befreien konnten. Henoch hatte mittlerweile das Bewusstsein wiedererlangt und zerrte an seinen Fesseln. Auch Michaja unternahm gerade verzweifelte Versuche, seine Hände frei zu bekommen, als Jona das Quartier betrat.
Schnell kauerte er sich zu den Gefesselten, setzte Henoch die Klinge seines Messers an die Kehle und riet ihm, still wie ein toter Fisch liegen zu bleiben. Eine Aufforderung, der er auch sofort Folge leistete. Michaja, der die Warnung mitbekommen hatte, tat es ihm gleich.
Als Jona den Knecht Simon Augenblicke später wachrüttelte und ihm dabei die Hand auf den Mund legte, reagierte dieser erst ungehalten, glaubte er doch, Jona wolle ihm einen üblen Streich spielen. Doch schon nach den ersten eindringlichen Sätzen richtete er sich hellwach auf.
»Tyrus? Das ist ja ungeheuerlich!«, stieß er entsetzt hervor. »Und du bist dir dessen ganz sicher?«
»Ich schwöre es bei meinem Leben. Wir haben es beide gehört. Aber wie ihr euch entscheidet, ist eure Sache. Das Seil hängt jedenfalls oben von der Zinne«, flüsterte Jona ihm zu und gab noch hastig den guten Rat weiter, erst seine Frau und seinen kleinen Sohn zu wecken und diese schon auf das Dach geschickt zu haben, bevor er die Warnung an den Nächsten in der Gruppe weitergab. »Viel Glück!«
Simon ergriff seine Hand und drückte sie. »Euch auch! Möge Gott es dir vergelten, dass du uns gewarnt hast, Jona ben Joram!«
Jona rechnete fest damit, dass Timon nicht auf ihn gewartet hatte, sondern in der Zwischenzeit schon am Seil hinuntergeklettert war. Umso größer war seine Überraschung, als er bei seiner Rückkehr auf das Dach sah, dass Timon noch immer an der Mauernische stand, wo das Seil von der Zinne hing. Unruhig trat er von einem Bein auf das andere, als glühten Kohlen unter seinen nackten Sohlen.
»So? Können wir jetzt endlich?«, raunte er ihm nervös zu.
»Warum bist du nicht schon längst hinuntergeklettert? Du traust dich wohl alleine nicht, was?«, frotzelte Jona.
Timon lachte leise auf. »Wir sprechen uns unten!« Und damit schwang er sich über die Zinne, ergriff das dicke Seil und kletterte flink abwärts, als wäre es ihm nicht fremd, in Schwindel erregender Höhe an einem Seil zu hängen, über dessen Tragfähigkeit er nur Vermutungen anstellen konnte.
Jona verfolgte Timons Abstieg mit klopfendem Herzen. Als sein Gefährte sicher unten angekommen war, zu ihm hochwinkte und auffordernd am Seil ruckte, war nun die Reihe an ihm, sein Leben der dreifachen Reihe zusammengeknoteter Deckenstreifen anzuvertrauen.
Der Schweiß brach ihm aus, als er bäuchlings über die Zinne rutschte, nach dem Seil griff und im nächsten Moment über dem gähnenden Abgrund hing, nur von den zusammengeknoteten Deckenstreifen gehalten. Ihm war, als hörte er, wie an manchen Stellen schon die Stofffasern unter der Belastung rissen. Bei den Decken
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