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Der geheime Auftrag des Jona von Judaea

Titel: Der geheime Auftrag des Jona von Judaea Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Rainer M. Schroeder
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verrenken musste, um mit dem Oberkörper ins Freie zu gelangen, ohne dabei den Halt zu verlieren.
    Mit der linken Hand hielt er sich an der oberen Innenkante des Fensters fest, während er sich vorbeugte, streckte und sich dann auch noch auf die Zehenspitzen stellte, um mit der Rechten den Mauersims über sich zu ertasten, der unterhalb der Zinnen etwa eine Handbreite hervorsprang. Wäre die Deckenhöhe der Schlafkammer nicht so niedrig gewesen, hätte Timon keine Chance gehabt, an den Sims zu kommen. So aber lag er gerade noch in Reichweite. Was jedoch nicht bedeutete, dass er sich daran festhalten und hochziehen konnte. Er musste darauf vertrauen, irgendwo im Mauerwerk neben dem Fenster auf die vorspringende Kante eines Kalksteinquaders zu stoßen, der wenigstens den Zehenspitzen eines Fußes genug Halt für die Last seines Körpers bot. Denn nur dann vermochte er, sich weit genug am Sims hochzuziehen und von dort die Öffnung zwischen zwei Zinnen zu erreichen. Ein einziger Augenblick der Schwäche oder der Unachtsamkeit - und der Tod war ihm gewiss!
    Jona krampfte sich vor Anspannung der Magen zusammen. Er fürchtete um Timons Leben. Und nur mit Mühe hielt er einen erstickten Aufschrei zurück, als sein neuer Freund sich Sekunden später von der Fensterkante abstieß. Der tödliche Sturz in die Tiefe schien ihm unvermeidlich. Und dann war auch sein eigenes Schicksal besiegelt. Denn allein würde ihm die Flucht aus der Karawanserei niemals gelingen.
    Der Sturz in den gähnenden Abgrund blieb aus. Die Beine seines Gefährten tauchten noch einmal vor der Fensteröffnung auf, die sich als helles Rechteck inmitten der nachtschwarzen Wände abzeichnete. Sie pendelten kurz hin und her. Im nächsten Moment waren die nackten Beine auch schon wieder verschwunden, suchten wohl irgendwo an der Mauer nach Halt und kehrten auch nicht wieder in sein Blickfeld zurück.
    Qualvoll lange, bange Sekunden verstrichen. Dann endlich drang vom Dach der schwache Ruf eines Nachtvogels an sein Ohr. Das verabredete, erlösende Zeichen. Timon hatte es geschafft! Er hatte sich wahrhaftig am Mauersims hochgezogen und das flache Dach des Obergeschosses erklommen!
    »Schön ruhig bleiben! Du bist uns noch nicht los!«, zischte Jona dem gefesselten und geknebelten Aufseher ins Ohr, strich ihm kurz mit der Messerklinge über den Hals und huschte dann zur Tür hinüber.
    Sie bestand aus geflochtenen Zweigen und hing in Lederschlaufen im Türrahmen, so wie es überall im Land bei den Hütten und Häusern der einfachen Bevölkerung die Regel war. Der Besitzer der Karawanserei hatte viel Wert darauf gelegt, sein Geviert nach außen hin so sicher und festungsgleich wie möglich zu bauen. Aber er hatte es zweifellos als Verschwendung betrachtet, für die Türen der einfachen Schlafräume solides Holz zu verwenden, das von weither herangeschafft werden musste und horrend teuer war.
    Jona wurde bewusst, dass er nicht gezählt hatte. Aber das war von geringer Bedeutung. Timon hatte eine Atempause mehr als verdient. Und je mehr Zeit er ihm ließ, desto besser konnte Timon sich oben auf dem Dach in Position bringen und sich auf den Moment vorbereiten, in dem er eingreifen musste.
    Das Messer, das sie Henoch abgenommen hatten, steckte Jona sich im Rücken hinter seinen Gürtel. Mit mühsam erzwungener Ruhe zählte er bis fünfzig. Dann nahm er seine Kleiderrolle an sich, klappte den Holzriegel der Tür zurück und öffnete sie gerade so weit, dass er sich durch den Spalt zwängen und hinaus auf den überdachten Gang treten konnte. Die alten Lederschlaufen knarzten.
    Er schätzte die Entfernung von der Tür bis zur Treppe, wo Michaja Posten bezogen hatte, auf ungefähr zwanzig Schritte. Nach vorne übergebeugt und die Kleiderrolle mit beiden Händen vor den Magen gepresst, wankte er über den Gang in Richtung Treppe. Er hoffte, Michaja dort schlafend anzutreffen und ihn ebenso mühelos überwältigen zu können wie Henoch.
    Diese Hoffnung erfüllte sich jedoch nicht. Schon nach wenigen Schritten sah er die aufgerichtete kantige Gestalt des Aufsehers, die sich aus den nächtlichen Schatten am Treppenabsatz löste und sich ihm ruckartig zuwandte.
    Sofort begann er leise, aber für Michaja doch vernehmlich zu stöhnen und sich im Gehen zu krümmen, als plagten ihn heftige Unterleibsschmerzen.
    Der kräftig gebaute Aufseher mit der stark gebogenen Nase kam ihm schnell entgegen und verstellte ihm den Weg. Blasses Mondlicht fiel durch die Rundbögen des niedrigen

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