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Der geheime Brief

Der geheime Brief

Titel: Der geheime Brief Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: M Ernestam
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Ich wusste nicht, ob ich diese Verantwortung hätte tragen können.«
    Die Antwort auf ihre unausgesprochene Frage. Er war nicht dort gewesen. Sie versuchte, teilnahmsvoll zu klingen.
    »Du warst erst sechzehn, als du das alles gehört hast. Ein Junge. Es muss eine schwere Last für dich gewesen sein.«
    »Ich habe versucht, es zu verdrängen. Vergeblich, wie du siehst. Man kann seiner Verantwortung nicht entkommen, und wer weiß, vielleicht bin ich deshalb so alt geworden. Vielleicht habe ich so lange gelebt, damit du das hier erfährst. Du hast viel von ihr. Von deiner Großmutter.«
    Onkel Ivar war in sich zusammengesunken und sah aus wie
das, was er war. Ein alter Mann. Vorsichtig legte sie ihm den Arm um die Schulter.
    »Dein Vater, der vierjährige Racker, der sich an meine Beine klammerte, der hat doch auch alles gehört. Und er hat etwas gesehen. Ich wollte nicht …«
    »Was denn?«
    Onkel Ivar legte die Hand vor die Augen.
    »Gegen Ende dieser Auseinandersetzung, als Papa so ungefähr schrie, dass Mama ihn nicht liebte, riss er eine Schere an sich, die auf dem Tisch lag. Ich dachte zuerst, er wollte Mama damit angreifen, aber dann sagte er, er müsse wohl so aussehen, um geliebt werden zu können … und dann schnitt er sich den Mundwinkel und die Wange auf. Ich werde nie vergessen, wie kalkweiß meine Mutter wurde. Aber sie blieb ruhig, zog ein Taschentuch hervor und drückte es auf seine Wange. Sie schwiegen beide, es war totenstill.
    Ich konnte eigentlich nie glauben, dass Johannes begriffen hatte, was da passiert war. Aber dann wurde er stumm, und ich hatte solche Angst, bis er endlich wieder sprach. Ich bildete mir ein, er habe es vergessen. Bis Papa starb und wir den Ring fanden. Als wir die Papiere durchsahen, lag der Ring zwischen seinen Uhren und Manschettenknöpfen. Johannes nahm ihn und ging aus dem Zimmer. Er fuhr mit dem Boot los und kam erst spät in der Nacht zurück. Ich war wach und ging in die Küche. Dort stritten wir, und es kam heraus, dass dein Papa sich sehr gut erinnern konnte. Als habe der Ring ihm die Erinnerung an dieses scheußliche Erlebnis zurückgegeben.
    Ich erzählte ihm, was er sonst noch wissen musste. Damals fand ich das richtig, jetzt weiß ich es nicht mehr. Du weißt, wie es dann weiterging. Wir sahen uns immer seltener. Dann ließ er sich von deiner Mutter scheiden. Verstummte wieder, als er in die Krankheit glitt. Er konnte nie vergessen und niemals
glauben, dass Mama ihn genauso geliebt hatte wie mich. Was sie tat, weiß ich sehr gut. Aber dass sein Vater zum Tod des meinen beigetragen haben sollte, dass war mehr, als er ertragen konnte.«
    Onkel Ivar wandte sich wieder zu ihr um.
    »Ich liebe meinen kleinen Bruder, und ich habe meine Mutter geliebt. Und Jakob, den einzigen Vater, den ich jemals gehabt habe. Ich liebe dich, Inga. Und deshalb will ich nicht, dass du dich von der Trauer zerstören lässt. Lebe. Ich weiß, dass du Mårten so geliebt hast wie ich meine Frau. Aber liebes Herz, wir leben, du und ich. Uns sind noch einige Jahre vergönnt, und ich wünsche dir nur Gutes. Wenn ich es dir nur geben könnte.«
    »Das tust du doch. Immer schon.«
    Das meinte sie wirklich. Onkel Ivar hatte in ihrem Leben immer Freude und Geborgenheit bedeutet. Was er hier erzählt hatte, musste ihn viel Kraft gekostet haben. Jetzt lächelte er sie an. Seine Haut lag wie fleckiges Pergament über seinen Wangen. Eiskristalle funkelten in den Haarsträhnen, die unter der Mütze hervorlugten.
    »Jetzt gehen wir nach Hause und essen ein wenig. Ich kann ja verstehen, dass du nach Marstrand zurückwillst, aber du kannst so lange bleiben, wie du willst. Ich würde mich sehr darüber freuen.«
    Er streichelte ihr ein wenig unbeholfen die Wange, und sie legte die behandschuhte Hand auf seine. Sie hatte viel erfahren, aber die ganze Geschichte würde sie vermutlich niemals hören. Und doch musste das alles einen Sinn haben. Die Alternative wäre unerträglich.
     
    Onkel Ivar hatte ihr eine Wärmflasche ins Bett gelegt, und als sie nach dem Essen ins Zimmer kam, hatte er bereits die Nachttischlampe eingeschaltet und die Tagesdecke zurückgeschlagen.
Väterliche Fürsorge, die bewirkte, dass sie sich wieder klein fühlte. Sie dachte an ihren Vater und die Musik, die sie zusammen gehört hatten und daran, dass Rakels Klavier noch immer da war.
    Onkel Ivar hatte erzählt, dass es bei einem seiner Söhne stand. Man konnte leider nicht mehr darauf spielen, da ein Riss im Inneren das Stimmen

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