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Der geheime Brief

Der geheime Brief

Titel: Der geheime Brief Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: M Ernestam
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Als sie dann ganz in der Nähe seines Hauses war, hatte er sie angerufen und vorgeschlagen, sich auf dem Friedhof zu treffen. Er wollte eine Kerze auf das Grab ihrer Großeltern stellen und hätte sie gern dabeigehabt. Sie wisse doch, wo das Grab lag?
    Seltsamerweise wusste sie es, obwohl es viele Jahre her sein musste, dass sie zuletzt mit Mårten dort gewesen war. Der Weg war sorgfältig ausgeschildert. Als sie den Wagen abgestellt hatte und auf die weißgekalkte Kirche zuging, sah sie in der Ferne die vertraute Gestalt. Onkel Ivar wartete auf sie.
    Er starrte auf das Grab, das vor ihm lag, und zuckte zusammen, als sie vorsichtig seine Schulter antippte.
    »Inga! Da bist du ja. Wir leben doch in seltsamen Zeiten. In so seltsamen Zeiten …«

    Sie trat neben ihn und las die Inschrift auf dem Grabstein. Rakel und Jakob. Onkel Ivar seufzte.
    »Rakels Grab. Weißt du, dass das Grab der biblischen Rakel angeblich in der Nähe von Jerusalem liegt? Es gibt dort oft Demonstrationen und Auseinandersetzungen. Rakels Grab ist wichtig, nicht nur für die Juden. Ich denke oft daran, wenn ich hier an Mamas Grab stehe. Sie war Pazifistin, ich habe vergessen, dir das zu erzählen. Sie verabscheute alles, was Krieg heißt. Behauptete, nichts könne den Verlust von Menschenleben rechtfertigen. Aber sie hatte ja auch zwei Weltkriege erlebt. «
    Ihre Finger waren im Schneetreiben erstarrt. Onkel Ivar zog seine Handschuhe aus und reichte sie ihr. Sie zog sie an und musterte die Kerze, die auf Großmutter Rakels Grab brannte. Die Flamme zitterte hin und her.
    »Und Johannes hat mit dir gesprochen.«
    »Nicht gesprochen. Er hat die Hand gehoben und ein Wort gesagt. Und mir geholfen, das hier zu finden.«
    Sie zog den Handschuh wieder aus, schob die Hand in die Tasche und griff nach dem Taschentuch, das sie um den Ring mit der Inschrift gewickelt hatte. E. Seeger. Sie hielt ihn Onkel Ivar hin in der Erwartung, dass er ihn überrascht musterte. Aber er sah den Ring nur an und nickte.
    »Ja, das ist er. Das hatte ich ja geahnt. Es hätte natürlich der Trauring sein können. Aber dieser hier …«
    »Kennst du den?«
    Zum ersten Mal klang sie vorwurfsvoll. Sie hatte die Heimlichtuerei satt und wunderte sich über Onkel Ivars Ruhe. Als habe er ihre Gefühle erraten, fasste er sie am Arm und führte sie zu einer Bank. Sie setzte sich, und Onkel Ivar holte eine Thermosflasche aus der mitgebrachten Tasche. Er füllte zwei Becher mit Glühwein, ehe er neben ihr Platz nahm. Er hatte
die Schirmmütze tief über die Ohren gezogen, und seine Nasenspitze hatte sich gerötet.
    »Du denkst vielleicht, ich hätte dich belogen. Aber ich wollte dir nur so viel Wahrheit offenbaren, wie du vertragen könntest. Und ich dachte, wenn er etwas sagte, dein Vater, dann sollte es so sein. Mama hat sich auf das Schicksal verlassen. Ich weiß noch, dass sie manchmal sagte, sie glaube aus Mangel an etwas Besserem an Gott. Aber dass Schicksal oder Vorsehung die Risse abdichten müssten.«
    »Und was hast du also nicht erzählt?«
    Sie dachte an Niklas’ Mitteilung, in der er sie gebeten hatte, sich zu melden. Sie wollte so schnell wie möglich zurück nach Marstrand. Um sich auszuruhen, wie sie es anfangs vorgehabt hatte. Onkel Ivar seufzte.
    »Alles war eigentlich so, wie ich es erzählt habe. Johannes und ich standen hinter der Tür und lauschten dem Streit unserer Eltern. Sie sprachen über meinen Vater, über den Mann, den meine Mutter offenbar geliebt hatte. Vielleicht noch immer liebte, das weiß ich nicht. Sie schrien einander an. Mama sagte etwas darüber, warum er dieses Haus gewollt hatte, wo er die Vergangenheit doch ruhen lassen könne. Papa rief, dass sie von ihm nicht verlangen könnte zu vergessen, dass er dort lag. Sie, die sich mit einem unzuverlässigen Mörder abgegeben hatte, der Wahrheit in Lüge und Lüge in Wahrheit verkehrte, ganz nach Belieben. Und Mama fragte, wie er das sagen könne, er als Geistlicher. Sollte die Vergebung ihm nicht näherliegen?
    Da fing Papa an zu weinen und bat um Verzeihung. Er sagte, er schäme sich noch immer so entsetzlich. Mama war sofort wie ausgewechselt und fing an, ihn zu trösten. Sie sagte, er dürfe sich keine Vorwürfe wegen etwas machen, an dem er nichts hätte ändern können. Dass er ihr lieb sei. So drückte sie sich aus.

    Aber dann sprach Papa darüber, dass sie trotzdem einen Toten geschändet hätten, und Mama antwortete, das Gegenteil sei der Fall gewesen. Sie hätten eine Seele gerettet, und sie

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