Der geheime Brief
unmöglich machte. Aber es wurde doch behalten, als Erinnerung, die Enkelkinder spielten Keyboard und E-Gitarre. Das Banjo hatte Ivar behalten. Er hatte es im Haus auf Marstrand auf dem Dachboden gefunden, mit nach Hause genommen und als Kind darauf herumgeklimpert. Als er von zu Hause wegging, hatte seine Mutter es ihm mitgegeben, und er hing sehr daran. Und dachte oft darüber nach, wer wohl früher darauf gespielt haben mochte.
Onkel Ivar schaute in seinen Teller, als er das sagte. Sie begriff, dass es ihm wehgetan haben musste, nicht nach seinem Vater fragen zu können und sich stattdessen eine Phantasiegestalt zusammenreimen zu müssen, die alle Züge aufwies, die er bei keinem anderen finden konnte. Falls Onkel Ivar jemals so gedacht hatte. Jakob war der einzige Vater, den ich hatte, hatte er das nicht so gesagt? Vielleicht hatte Onkel Ivar wirklich nach vorn schauen können, statt sein Gemüt von der unklaren Vergangenheit verdüstern zu lassen. Vielleicht war er deshalb so alt geworden, und nicht, um ihr irgendwann die Wahrheit zu erzählen.
Sie hatten über die Familie gesprochen, und Onkel Ivar hatte von Rakels Eltern und dem Bauernhof mit dem Gebetssaal unter dem Dach erzählt. Das Haus existierte noch, und wenn sie wollte, könnten sie irgendwann hinfahren und sehen, wo ihre Großmutter aufgewachsen war. Vorsichtig hatte sie sich dem wunden Punkt genähert. Onkel Ivar hatte sich bereit erklärt, mit ihr auf den Friedhof von Kviberg zu gehen, falls sie
von Friedhöfen noch nicht die Nase voll hätte. Er hatte abermals voller Wärme über seine Mutter gesprochen. Sie staunte darüber, wie Rakel und Lea es geschafft hatten, nach diesem traumatischen Erlebnis weiterzuleben. Rakel, die ihren Geliebten verlor und offenbar trotzdem ein glückliches Leben gehabt hatte. Rakel, die zusehen musste, wie ihr Mann sich entstellte, weil er sie so sehr liebte.
Sie hatte wieder nach Lea gefragt, und Onkel Ivar hatte bereitwillig über sie erzählt. Heilsarmeesoldatin und Missionarin, ja. Aber Lea und Gott hätten eher wie gute Kameraden oder wie befreundete Geschäftspartner gewirkt. Eine mutige Frau sei sie gewesen. Sie habe die am wenigsten zivilisierten Gegenden der Welt besucht und wenn nötig Berge versetzt, um nicht nur das Evangelium zu predigen, sondern auch den Notleidenden zu helfen. Sie war immer mit Rakel in Kontakt geblieben, die restliche Familie hatte sie aber so gut wie nie getroffen. Sie hatten sie eigentlich erst kennengelernt, als Rakel krank wurde.
Dass Lea sich um die kranke Rakel kümmerte, war eine Selbstverständlichkeit. Bei einem Besuch im Krankenhaus hatte Ivar schon draußen auf dem Gang das schallende Lachen der beiden gehört, nur wenige Tage vor Rakels Tod. Ob sie aufeinander neidisch gewesen seien? Onkel Ivar schüttelte den Kopf. Er schien nicht zu begreifen, was sie meinte.
Genug jetzt. Sie zog ihr Telefon hervor. Niklas meldete sich sofort.
»Hallo, Inga.«
Und ihr Name klang wie alles und wie nichts. Sie sah das Foto an, dass sie aus der Tasche genommen und auf den Nachttisch gestellt hatte. Großmutter Rakel, mit dem kleinen Ivar auf dem Schoß. Was tut man, Oma, wenn der, den man liebt, tot ist, man selbst aber weiterlebt? Kann ich das mit der Liebe wieder
lernen? Ich dachte, ich wüsste Bescheid, aber jetzt stolpere ich dahin wie eine Anfängerin auf dem Eis.
»Hallo.«
»Wie geht es dir?«
»Gut. Ziemlich gut.«
»Was machst du?«
Hörte er sich ein wenig unsicher an? Ja, ein wenig. Tröstend.
»Im Moment sitze ich in Onkel Ivars Gästezimmer im Bett. Er war so lieb. Hat mir sogar eine Wärmflasche hingelegt, und auf der habe ich jetzt die Füße.«
»Du und deine kalten Füße.«
»Was ist damit?«
»Du hast doch immer kalte Füße. Hast irgendwie immer die falschen Schuhe an.«
»Mach ich jetzt schon wieder alles falsch?«
Inga, sechzehn Jahre. Genervt von Niklas, siebzehn Jahre.
»Bist du sauer auf mich?«
»Nein.«
»Ich wollte wirklich nicht …«
»Das ist schon klar.«
Inga sagte, es spiele keine Rolle, und damit reduzierte sie ein Stück Wärme auf einen Irrtum.
»Du hattest eine Nachricht hinterlassen.«
»Ja. Ich hab mir Sorgen gemacht. Du fährst so weite Strecken. «
»Das musste sein, Niklas. Meinetwegen. Das ist mir jetzt klar. So viel ist passiert … ich habe so viel erfahren. Ich weiß nicht, ob ich noch Vertrauen zu irgendeinem Gott habe, aber immerhin stelle ich diese Frage. Meine Großmutter Rakel hat offenbar gesagt, das Schicksal
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