Der geheime Brief
müsse die Risse abdichten. Ich war bei meinem Vater. Er hat mit mir gesprochen.«
»Was sagst du da?«
Niklas’ Überraschung war so echt, dass die Unsicherheit aus seiner Stimme verschwand und sie ebenfalls mitgerissen wurde. Ihr Gespräch wurde zu einer Wiederholung des Handlungsverlaufs, unter guten Freunden, und während sie erzählte, übernahm die Geschichte das Kommando und fegte die Banalitäten des Augenblicks davon. Ausführlich erklärte sie, was passiert war, und ließ ihre Schilderung auch in ihr selbst nachwirken. Der erste Besuch bei Onkel Ivar und die halbe Wahrheit, mit der sie dann ins Pflegeheim gefahren war. Der Besuch bei ihrem Vater. Dessen erhobener Arm und das Wort, die sie zu dem Ring geführt hatten. Die ganze Wahrheit, so wie Onkel Ivar sie ihr auf einer Friedhofsbank servierte, zusammen mit einem gehaltvollen Glühwein, während sie geliehene Handschuhe trug. Und sie hatte kalte Füße gehabt, das ging ihr plötzlich auf, aber das würde sie Niklas bestimmt nicht erzählen.
Die Worte, die aus ihrem Mund strömten, kamen ihr vor wie die einer anderen. Als spräche nicht Inga Rasmundsen so sachlich über verstümmelte Leichen, narbige Wangen und erschlagene Männer. Wenn sie das alles nur Mårten hätte erzählen können. Er hätte es spannend gefunden, und dadurch hätte sie mit dem Entsetzlichen umgehen können.
Als sie verstummte, schwiegen beide eine Weile.
»Deshalb also«, sagte Niklas endlich.
»Deshalb was?«
»Lagen die Artikel über den Krieg da herum.«
»Ja.«
»Was ist das jetzt alles für ein Gefühl für dich?«
»Ich weiß nicht so recht. Das muss ich mir noch überlegen. Und überlegen, was ich machen soll … ob ich überhaupt etwas machen soll. Ich wollte gar nicht so viel unternehmen, als ich ins Haus gefahren bin. Jetzt weiß ich, dass dort ein Mann gestorben ist. Das ist seltsam. Ich hatte nie das Gefühl, dass das
Haus Geheimnisse verbergen könnte. Bis ich jetzt hingekommen bin. Etwas war anders. Aber vermutlich bin nur ich es, die sich verändert hat.«
»Vielleicht, weil mein Vater diesen Karton in den Schuppen gestellt hatte.«
Jetzt war sie diejenige, die verstummte. Niklas’ Vater. Harald, der fast nicht mehr gehen konnte. Außer an Orte, mit denen er sehr vertraut war.
»Ich war jetzt bei Papa, und wir haben über dich gesprochen. Darüber, dass du diesen Karton gefunden hast. Mein Vater schien das interessant zu finden, und da habe ich erzählt, dass du in Malmö warst und dass du zu Ivar und vielleicht auch zu deinem Vater wolltest. Mir fiel auf, dass er leise vor sich hin zu lachen schien. Und als ich ihn fragte, warum, antwortete er, er habe also richtig gedacht, als er den Karton hinstellte.«
»Was … wie ist das passiert?«
»Meinst du, das wollte ich nicht auch wissen? Weißt du, was er gesagt hat? Dass er diesen Karton viele Jahre lang bei sich stehen hatte. Und er habe immer das Gefühl gehabt, dass der noch nützlich werden würde. Als du zum Haus kamst, schien ihm der richtige Zeitpunkt gekommen. Nach allem, was du hinter dir hattest.«
»Aber wie …«
»Er sah ungeheuer zufrieden aus, als ich danach fragte. Dann hat er erzählt, dass er deine Großmutter immer bewundert habe. Sie sei die schönste Frau gewesen, die er jemals gesehen habe. Das hat er gesagt, wirklich. Er war sogar verliebt in deine Großmutter, obwohl er damals noch so klein war. Manchmal hat er sich zu eurem Haus geschlichen und sie heimlich hinter einem Baum beobachtet. Oder ist ihr gefolgt, wenn sie baden ging. Sie hat immer nackt gebadet. Suchte sich einen abseits gelegenen Felsen und sprang ins Wasser, so, wie Gott sie
geschaffen hatte, laut meinem Vater. Und Herrgott, wie er sie geschaffen hatte, fügte er hinzu. Mein Papa! Er sagte übrigens auch noch, dass sie ihn wohl ab und zu entdeckt hatte. Aber dass sie ihm den Anblick geschenkt habe.«
Die Vorstellung von Niklas’ Vater als kleinem Knaben, der Großmutter Rakel beim Bad im Meer beobachtete, wurde zu einer Fotografie. Zum Bildnis einer nackten Frau, die auf einem Felsen saß und auf das Unerklärliche hinausblickte. Alles gesehen durch die Augen eines kleinen Jungen, der sich zusammengekrümmt zwischen den Steinen versteckte.
»Eines Tages hat er sich zum Haus geschlichen und durch das Fenster geschaut. Da sah er, wie sie vor dem offenen Kamin saß und Papiere ins Feuer warf. Dann musste etwas passiert sein, ich weiß nicht, was. Jedenfalls war sie dann verschwunden. Papa schlich sich durch die
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