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Der geheime Brief

Der geheime Brief

Titel: Der geheime Brief Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: M Ernestam
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würden sich über die Dämmerung freuen. Ich sah, dass Jakob in diesen Stunden gealtert war, sah, wie er die Hände hob.
    »Nein, das kann nicht dein Ernst sein.«
    »Doch. Anton kann einer von ihnen werden. Ein Opfer des Krieges. Das ist doch gar nicht falsch. Auch er ist im Kampf gefallen. Versehrt und gezeichnet wie sie.«
    Ich packte mit beiden Händen Jakobs Jacke. Der Wind riss am Segel und wir wären fast gestürzt.
    »Wenn du mich liebst, Jakob, wenn du nur halb so viel für mich empfindest, wie du im Haus gesagt hast, dann tust du das hier für mich. Ermöglichst Anton eine Beerdigung in geweihtem Boden. Wie den anderen.«
    Jakobs Haare, klebrig vom Salzwasser. Seine verwirrten Augen. Er ging zur Reling, streckte den Arm aus und griff zu. Zog, aber es war zu schwer. Ich beugte mich ebenfalls vor und erwischte einen Arm. Lea trat zurück, und wir hievten ihn an Bord. Die Reste des Mannes, den die Vorsehung für uns ausgesucht hatte.
    Er war jung. Sein Gesicht war entstellt, aber sein Körper in Uniform unversehrt. Jakob hob die triefnassen Kleider an.
    »Ich glaube, das ist ein Deutscher«, sagte er leise. »Ich bin nicht sicher, aber ich glaube es. Was soll ich also machen, Rakel, mit diesem unbekannten Deutschen?«
    »Nimm ihm Rock und Hemd ab. Tausche mit Anton.«

    Er gehorchte. Zusammen mit Lea zog er dem Fremden Rock und Hemd aus. Der Oberkörper glänzte wie ein Fischbauch, und ich wagte nicht daran zu denken, wie Anton einmal aussehen würde. Ich zog Anton seine Kleider aus, und nach einer Weile waren wir fertig. Anton war gekleidet wie ein deutscher Soldat. Der Soldat hatte Hemd und Rock eingebüßt, war aber durch die Streifen an seiner Hose einwandfrei als Kämpfer zu erkennen. Vorsichtig beugte ich mich über Anton und streifte seinen Ring ab, das Abzeichen einer freien und christlichen Studentenverbindung. Wie durch einen Nebel sah ich den Ring des deutschen Soldaten und nahm auch den. Das war schwer, und ich will mich nicht daran erinnern, was es für ein Gefühl war, es tun zu müssen, nur daran, dass es gelang. Ich warf Antons Ring zusammen mit seinen Kleidern ins Wasser. Danach schloss ich die Hand um den anderen Ring.
    »Rakel?«
    Leas Stimme. Die Wange, mit den Umrissen eines Muttermals.
    »Antons Ring soll niemand bekommen. Dieser Soldat hier hat eine Seele gerettet. Antons Seele. Irgendwann werde ich das wieder gutmachen. Frag mich nicht weiter. Lass sie jetzt zu ihren Kameraden.«
    »Und wenn sie ihn erkennen?«
    »Das werden sie nicht tun. Dafür sorgt das Meer. Sein Gesicht ist schon jetzt …«
    Ich sah seine Wunden und Schwellungen und wusste, dass ich recht hatte. Dann falteten wir die Hände und beteten und hoben zuerst den deutschen Soldaten und dann Anton auf. Der Aufprall auf das Wasser ließ einige der anderen Leichname hin und her wogen. Im Tod nahmen sie ihre Freunde auf. Ich ahnte, dass Anton zwischen den Felsen gefunden und in Ehren begraben werden würde.

    Und ich? Ich wusste es schon damals, als ich erschöpft im Boot kauerte. Ich wusste, dass ich für den Rest meines Lebens mit der Erinnerung an die Ernte des Krieges und mit den Andeutungen von etwas leben müsste, das hätte sein können. Nachts würden sie mich heimsuchen, die Gedanken an diese Stunden, und ich würde alles, was wir gesagt und getan hatten, drehen und wenden. Ich würde vor mir die treibenden Körper sehen. Ich würde uns drei sehen und vielleicht entsetzt sein. Aber ich würde nichts bereuen.
    Ich wusste, dass das Meer mich niemals loslassen würde. Dass ich es immer in mir haben würde, dass es sich mit meinem Blut vermischen, dass es brausen und wogen würde. Dass dieses mit Meerwasser vermischte Blut mich eines Tages besiegen würde. Ich würde für den Rest meines Leben die Antwort bei dieser Kraft suchen, die uns geholfen haben musste.
    Mensch. Wer bist du, dass du nach dem Sinn aller Dinge fragst? Diese Arbeit musst du ganz allein leisten.

Kapitel 17
2007
    Der Friedhof war gepflegt, mit ordentlichen Wegen und schönen Steinen. Es hatte schon angefangen zu schneien, als sie noch bei ihrem Vater gewesen war, und auf dem Rückweg zu Onkel Ivar schneite es weiter. Er hatte sich bei ihrem Anruf so rasch gemeldet, dass sie den Verdacht hatte, er habe am Telefon gewartet. Aber was sie ihm erzählte, verschlug ihm für kurze Zeit die Sprache.
    Nach einer Weile hatte er gefragt, ob sie nicht lieber darüber reden wollten, wenn sie zu ihm käme. Er würde sich alle Mühe geben, vorher nicht zu sterben.

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