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Der geheime Brief

Der geheime Brief

Titel: Der geheime Brief Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: M Ernestam
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Ölfässer, Kriegsmaterial, Rettungsbojen und Schwimmgürtel wurden angeschwemmt, und die Frauen wanden Kränze. Das taten auch wir.
    In den Zeitungen konnten wir über diese größte Seeschlacht aller Zeiten lesen, über die Lasten, die die Küste zu tragen hatte, und über die Hilfeersuchen des Königs und der Regierung. Die Bewohner des Schärengürtels waren verzweifelt, und wir wussten alle, dass etwas Entscheidendes geschehen war. Trauer und Wut bei denen, die die Menschenreste einsammelten
und begruben, entwickelten sich zu Abscheu dem Krieg und seiner Unmenschlichkeit gegenüber. Einige hatten ihre Namen auf dem Grabkreuz stehen und wurden von Angehörigen betrauert, andere für unbekannt erklärt und namenlos in der Erde versenkt. So auch er. E. Seeger. Der Name, den ich im Ring gelesen hatte, zusammen mit einem Datum. 2. 3. 16. Einige Monate zuvor hatte er geheiratet. Ob es Gott gibt? Damals stellte sich diese Frage zum ersten Mal.
    Wir saßen in der Kirche. Lea, Jakob und ich, und hörten die Glocken. Die Schiffsjungen marschierten auf, Blumen schmückten den Chor. Die Särge waren mit Flaggen bedeckt, britischen und deutschen. Zwölf mit Namen und neun ohne, vier Briten und fünf Deutsche. Zwei dieser namenlosen Deutschen waren Anton und E. Seeger. Ich wusste es, ich war davon überzeugt, dass Wind und Wellen das, was wir gesehen hatten, an den Strand befördert hatten.
    Um uns herum saßen, schwarzgekleidet, die Einwohner von Marstrand. Der Pastor predigte über das Machtstreben der großen Länder und das Leben der jungen Männer, die vergeblich vor ihrer Zeit ausgelöscht worden waren. Er sprach davon, dass das Meer uns allen gehört und uns alle vereint. Dann wurden die Särge in die Erde von Koön versenkt. In geweihten Boden.
    Wie hatten wir es geschafft, das Boot zu lenken, wieder anzulegen, das Ölzeug zusammenzufalten, sauber zu machen? In einer Dämmerung mit leichten Wolken und süßem Blumenduft nach Hause zu gehen, Jakob zum Haus zu begleiten und den Boden zu putzen? Wie hatten wir Jakob nachgeben und ihn dort im Haus allein lassen können, wo die Männer von der nächtlichen Schlägerei vielleicht zurückkehren würden? Ich weiß es nicht. Weiß nur, dass es so geschah. Dass wir unsere Angst mit Anton und seinem unfreiwilligen deutschen Retter über Bord geworfen haben mussten.

    Wir verließen Jakob, schlichen uns zu unserem eigenen Haus und legten uns ins Bett. Lea umarmte mich. Ohne sie hätte ich noch immer den Geruch des Todes an meinen Fingerspitzen wahrgenommen. Ich begriff, dass mein Leben nie wieder so sein würde wie vorher und dass das Neue, das vor mir lag, mich nicht mehr verlockte. Meine Zweifel an Gott hatten gerade erst eingesetzt und wurden viel schlimmer, als Lea erklärte, dass sie sich geschlagen gab. Jetzt glaubte sie.
    »Aber warum, Lea? Du hast doch auch gesehen …«
    »Ja, aber mein Muttermal ist verblasst, und ich fasse das als Zeichen auf. Ich wurde durch Antons Blut geläutert, so wie Ruben immer sagt, dass wir alle durch Jesus Christus geläutert werden. Mehr kann ich nicht verlangen. Außerdem braucht Gott vielleicht eine wie mich, wo es auf Erden so viel Dreck zu beseitigen gibt.«
    »Entschuldige, aber ich verstehe dich nicht.«
    »Das kann ich auch nicht von dir verlangen. Ich verstehe es selbst nicht. Ich weiß nur, dass ich jetzt bereit bin, Ruben zu folgen, nicht nur, um gute Taten zu begehen, sondern auch wegen des Glaubens.«
    »Wie kannst du das sagen! Wo Anton …«
    »Ich weiß. Es war leicht, ihn zu lieben.«
    Leas liebevolle Blicke. Ihre Kabbeleien mit Anton, ihre Behauptung, er sei nicht der Richtige für mich, wie sie akzeptiert hatte, dass wir uns ihnen anschlossen und ein Quartett bildeten. Aber in diesem Moment war sie es, die mich tröstete. Das Wissen, dass Anton mit den anderen im Meer trieb, das Gefühl von Vergänglichkeit und einer Zukunft ohne ihn machten mir in dieser Nacht solche Angst, dass ich mich in Fetzen hätte schreien können.
    Aber wir schwiegen. Am Morgen standen wir auf, verrichteten unsere Arbeit und wurden wegen unseres späten Eintreffens
zurechtgewiesen. Einige Tage darauf erfuhren wir von dem Entsetzlichen, das auf dem Meer geschehen war. Amanda Otto rief ihre Gesinnungsgenossen zu sich, um zu erörtern, warum die Deutschen nicht gesiegt hatten, und wir erfassten allmählich die Tragweite des Geschehenen. Grebbestad, Hamburgsund und Marstrand, Skagen und Skanör, die ganze Küste, in diesem Sommer 1916. Wir hörten,

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