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Der geheime Brief

Der geheime Brief

Titel: Der geheime Brief Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: M Ernestam
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Stühlen nickten im Takt.
    Ich bemerkte ihn erst, als ich das Banjo hörte. Unsere Töne passten zusammen wie die schwarzen und die weißen Tasten des Klaviers. Ich wurde nervös und stolperte über einen Akkord. Anton blickte auf.
    »Du spielst gut, Rakel. Du solltest auch Banjospielen lernen. Setz dich neben mich, dann zeige ich es dir. Mein Vater hat es mir beigebracht. Das konnte er, wenn auch sonst nichts …«

    Ich setzte mich auf den Stuhl neben seinem. Anton nahm meine Hände und legte meine Finger auf die Saiten. Seine Hände lagen über meinen. Ich spürte seinen Oberschenkel warm an meinem und seinen Atem an meinem Hals. Schwitzend versuchte ich, mich auf die Saiten zu konzentrieren, bis sie mir tief in die Haut schnitten. Endlich ließ er mich los.
    »Das ist ein schönes Kleid.«
    »Vater meinte, ich könnte es zur Schulfeier brauchen.«
    »Du hast einen lieben Vater. Und eine liebe Mutter.«
    »Sie kann aber auch streng sein.«
    »Du weißt nicht, was du sagst. Wenn du meinen Vater erlebt hättest, dann wüsstest du Bescheid.«
    »Wie war es bei dir zu Hause?«
    Ich wollte verstehen, was hinter den Worten und der Musik lag. Wollte mehr über diesen Mann erfahren, der auf einmal bei uns war und mich eher durch das beeinflusste, was er nicht erzählte, als durch das, was er sagte.
    Die Dunkelheit ruhte auf Antons Wangen und ließ sie eingefallen wirken wie die eines Greises.
    »Es war so schlimm bei uns zu Hause, dass ich es niemals ein Zuhause nennen konnte.«
    Seine Hände, die eben noch über meinen gelegen hatten. Sein Mund, der schönste, den ich je gesehen hatte. Sein Geruch.
    »Aber er hat seine Strafe bekommen, der Mistkerl.«
    »Dein Vater?«
    »Hast du schon einmal getanzt?«
    Ich sagte, dass Baptisten nicht tanzten, und als Antwort bekam ich ein Kopfschütteln.
    »Die Menschen haben zu allen Zeiten getanzt, und lass dir bloß nicht einreden, dass das, was uns froh macht, eine Sünde ist. Komm. Ich bringe dir Walzertanzen bei. Du hast doch wohl keine Angst vor mir?«

    »Ich habe vor gar nichts Angst.«
    Anton zog mich auf die Füße, legte mir den einen Arm um die Taille und nahm meine Hand. Er fing an, eine Melodie zu singen, und ich hörte, dass er eine schöne Stimme hatte, wie Vater, nur dunkler. Er sang »eins, zwei, drei, eins, zwei, drei« und schob meine Füße in die richtige Richtung. Ich stolperte, trat ihm auf die Zehen, schämte mich und dachte, dass ich ihm bis zur Schulter reichte, und ging wieder in die falsche Richtung. Schließlich fand ich den Rhythmus. Er führte, ich folgte, und nach einer Weile wirbelte er mich immer wilder herum, sang lauter und lauschte. Dann blieb er stehen, ließ mich aber nicht los. Ich stand dicht bei ihm und sah, wie sein Brustkorb sich hob und senkte. Er hob mein Kinn mit dem Zeigefinger an, und abermals atmete ich seinen Duft ein.
    »Bist du schon einmal geküsst worden?«
    Zählten Vaters Gutenachtküsse oder Mutters Küsse auf die Stirn? Zählte der, den ich vom Nachbarsjungen bekam, wenn ich ihn jagte, bis er sich umdrehte und seinen feuchten Mund auf meinen presste, während ich doch mit ihm ringen wollte?
    »Ich bin erst dreizehn.«
    »Besser, du gewöhnst dich gleich daran. Denn ich habe noch nie so ein hübsches Mädel gesehen wie dich.«
    Ich durfte nicht zeigen, dass ich Angst hatte. Durfte nicht an die Arme um meine Taille denken.
    »Und die, um die du dich geprügelt hast, wegen der du die Narbe hast?«
    »Die habe ich nicht vergessen können, das stimmt. Aber sie hat nichts mit dir zu tun.«
    Dann nahm er meinen Kopf zwischen die Hände und legte seine Lippen auf meine. Und es war etwas ganz anderes als die Küsse meiner Eltern, etwas ganz anderes als die Versuche des Nachbarsjungen. Er ließ mich los und küsste mich wieder. Ich
war kurz davor zu weinen und dachte an die erste warme Milch aus dem Euter der Kuh.
    Niemand hatte je mit mir darüber gesprochen, was Männer und Frauen miteinander machen, um sich zu vermehren. Aber ich war auf einem Hof mit Tieren aufgewachsen und kannte deren Verhalten. Das hier war trotzdem etwas anderes. Meine große Angst hatte nichts mit Antons Mund zu tun. Es ging darum, dass etwas nicht richtig daran war. Dennoch wollte ich für den Rest meines Lebens hier stehen und nichts anderes mehr tun.
    Aus dem Augenwinkel sah ich die Flamme der Petroleumlampe. Ich stand im Gebetssaal, wo so viele gute Menschen gepredigt hatten. Ich hatte getanzt und einen Mann geküsst, und das gefiel mir gut. Anton ließ

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