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Der geheime Brief

Der geheime Brief

Titel: Der geheime Brief Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: M Ernestam
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drinnen und draußen.

    Sie setzte sich auf die Treppe. Trank Tee und dachte an damals. An den Tag, als sie es noch wichtig gefunden hatte, ob jemand ihre Fotos mochte oder nicht. Bilder zum Thema Veränderung. Niemals würde sie über diese Ironie hinwegkommen. Sie sah Mårten vor sich. Wie er nach einem Streit zurückkam, mit ausgestreckten Armen und Himbeerpralinen in der Tüte. »Das nennt man eben Liebe«, hatte er gesagt.
    Liebe. Ja, verdammt, es war Liebe gewesen. Eine Liebe, die sie für selbstverständlich hielt, genau, wie sie gestern Abend zu Niklas gesagt hatte. So, wie sie es für selbstverständlich halten konnte, dass sie jetzt hier saß, Tee trank und Nusskäse aß. Diese Beine und die Füße in den Holzschuhen funktionierten. Alles funktionierte, nicht zuletzt ihr Herz, das in unbarmherziger Regelmäßigkeit schlug und sie dazu zwang, allein weiterzuleben. Niemand wachte morgens auf, überprüfte sein Herz und lachte glücklich, weil es schlug. Obwohl jeder Mensch das tun müsste. Sich freuen, weil das eigene oder das Herz eines geliebten Menschen schlug.
    Solange das Schiff nicht untergeht, solange der Schlag des Herzens steht.
    Ja, Papa, deine Lieder wussten es, im Gegensatz zu mir.
    Was für ein warmer November. Dem Garten nach hätte es auch April sein können. Zwischen den Sträuchern vor dem Zaun blühte eine einsame Rose. Eine Novemberrose. Konnte das ein Zeichen sein?
    Sie suchte nach Zeichen, seit sie Mårten tot im Krankenhausbett gesehen hatte. Bei ihrem Vater war das anders gewesen. Einige Wochen, nachdem sie begriffen hatte, dass er nie mehr zurückkommen würde, hatte sie einen einsamen Vogel auf seinem Baum sitzen hören. Sein Gesang war ein so deutlicher Gruß gewesen, dass er ihr geholfen hatte, sich an glückliche Dinge zu erinnern. Die Seele ihres Vaters konnte noch immer
singen. Aber Mårten hatte sich nicht blicken lassen. Nur damals auf dem Friedhof, als er ihr ins Ohr geflüstert hatte, sie solle weiterleben. Das jedoch verlangte eine Kraft, von der sie nicht wusste, woher sie sie nehmen sollte. War die Alternative, einfach hier sitzenzubleiben? Würde sie dann zu einem Nichts werden, so wie wenn sie auf Englisch Witze machte? My name is Inga … In Swedish it means … nobody.
    Sie sprang auf und lief zu der Rose. Sie war schwach gelb und in der Mitte ein wenig zusammengeklebt. Vorsichtig krümmte sie die Hand und liebkoste die Blütenblätter. Der Garten war verwildert. Unkraut hatte sich zwischen den Steinen breitgemacht, überall lagen Äste herum, die die Stürme von den Bäumen gebrochen hatten. Onkel Ivar würde weinen, wenn er das sehen müsste. Nein, das nun doch nicht. Er würde etwas dagegen tun, vielleicht zusammen mit ihrem Vater. Dann würde Onkel Ivar zum Akkordeon greifen und das Resultat feiern, begleitet von ihrem Vater auf der Gitarre.
    Sie ging zum Schuppen, drückte reflexmäßig auf die Klinke und staunte, als die Tür aufging. Der Schlüssel hing an seinem Haken. Seltsam, aber vielleicht hatte Niklas hier aufgeschlossen, weil er irgendein Werkzeug gebraucht hatte, um das Wasser anzudrehen. Der Schuppen sah aus wie in ihrer Erinnerung, nur mit noch mehr ausrangierten Gegenständen vollgestopft als beim letzten Mal. In den Regalen stritten sich Farbdosen und Fischereigeräte um den Platz. An der Decke hing ein Paar alter Ruder neben Schwimmwesten, in einer Ecke lehnten Spaten, Hacken und Rasenmäher aneinander. Eigentlich ließe sich fast alles wegwerfen, wenn jemand Kraft und Lust dazu hatte. Sie zum Beispiel.
    Das ist ja offenbar schnell gegangen, Mårten zu vergessen.
    Verdammte Menschen.
    Du musst mich loslassen und weiterleben, Inga.

    Ja, sie hatte die Kraft dazu. Jetzt, in diesem Augenblick.
     
    Zwei Stunden später stand sie im Gras und betrachtete das Ergebnis. Im Schlafanzug, über den sie einen alten Overall anzog, war sie den Schuppen durchgegangen. Onkel Ivar würde knurren, er habe den Scheiß schon vor Jahren wegwerfen wollen. Sie fuhr sich durch die Haare und wollte ihm von dieser Aufräumaktion erzählen. Er würde sich freuen.
    Der Abfallhaufen war ziemlich groß. Der Abtransport mit dem Auto und der Fähre würde ein Vermögen kosten. Sicher hatte Niklas einen Wagen mit einem Haken für Anhänger. Vielleicht hätte er ja Zeit, um ihr zu helfen.
    Sie holte eine Harke aus dem Schuppen, um allerlei Dinge zusammenzuschieben, die der Wind auseinandergeweht hatte. Der Stiel der Harke lehnte an einem Regal. Als sie danach griff, fiel ihr Blick

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