Der geheime Brief
sein. Ich möchte nicht mit zu Hause tauschen. Es ist ein Zeichen, wie es mir in
jener Nacht zuteil wurde, die weder Du noch ich vergessen können, sondern mit der wir leben müssen. Schlimmer kann es auch in einer brennenden Hölle nicht gewesen sein, aber niemand soll mir sagen, wir hätten einen Fehler begangen. Haben wir uns über Gott erhoben und geglaubt, wir hätten das Recht, über Lebende und Tote zu urteilen? Ich bin zur Antwort bereit. Niemand hat mich je gelehrt, mich auf andere zu verlassen als auf mich selbst. Damit müssen die himmlischen Mächte nun leben. Ich bereue nichts, und Ihr müsst ebenso denken.
Ich gratuliere Euch zu Eurer Hochzeit. Ich weiß, dass Du es seltsam fandest, dass ich mich für dieses Leben hier entschieden habe. Aber glaub mir, es ist besser so. Unser Kind wird bei uns glücklich sein. Es wächst, und es bewegt sich in mir. So seltsam sich das anhören mag: Wir müssen einander vergeben, auch wenn das nicht nötig ist. Ich liebe Dich so sehr wie immer.
Ich habe Ruben erzählt, was in jener Nacht geschah, so, wie ich es mir gelobt hatte. Er war zuerst entsetzt, schluchzte und jammerte und weinte in meinen Armen. Die Trauer ist noch immer vorhanden, aber jetzt glaube ich, dass wir es schaffen werden. Das Leben wird auf den Tod folgen. Er freut sich und hat nicht auf die Beschimpfungen und Anklagen seines Vaters gehört. Sein gutes Herz steht mir bei.
Mir steht immer vor Augen, wie wenig ich leisten kann und wie viel getan werden muss. Aber unser Erfolg liegt nicht in unserer Größe, sondern in unserer Treue. Es ist nicht allen gegeben, groß zu sein, aber treu zu sein in dem, was vor uns liegt, das steht uns frei. So hat er jedenfalls gepredigt, mein guter Mann. Und ich muss mich beherrschen, um ihm nicht zu widersprechen und zu erklären, dass der, der sich immer kleiner macht, zertreten wird wie Brot in der Wüste. Du kennst mich. Ich fürchte weder Gott noch den Troll.
Liebe Grüße …
Die Unterschrift, mit schwarzer Tinte geschrieben, war nicht zu entziffern, da sie teilweise durchgestrichen war, wie der Name der Adressatin. Die Tinte auf dem Umschlag war bis zur Unkenntlichkeit verschmiert. Einige Stellen im Text waren durchgestrichen, vermutlich von der Zensurbehörde. Es war, um sich im Geiste des Briefes auszudrücken, ein Wunder Gottes, dass der restliche Text mit der Maschine geschrieben und zusammenhängend genug war, um gelesen werden zu können.
Der Inhalt war verwirrend. Überaus schlichte Missionsstationen, die Menschen dazu verlockten, ihr Land zu verlassen, um ihren Glauben zu verkünden. Aberglaube, der den Verkauf von frischer Milch an Weiße verbat und diese dazu zwang, Milchkonserven aus Europa kommen zu lassen, alle denkbaren Beschwerlichkeiten, und alles vor knapp hundert Jahren. Zugleich eine offene Sprache, die nicht zu einer so aufopferungsvollen Frau passte.
Sie schaute noch einmal auf den Poststempel. November 1916. Geschrieben im Ersten Weltkrieg. Nur wenige Monate vor der Geburt von Onkel Ivar. So hatte es ausgesehen, als er zur Welt kam. Wer hatte den Brief geschrieben? Vermutlich eine Bekannte der Großeltern. Der Großvater war doch Geistlicher gewesen und hatte die Mission mit hohen Beträgen unterstützt. Inga konnte sich sehr gut an ihn erinnern. Bei seinem Tod war sie elf Jahre alt und hatte vorher viele Sommer mit ihm zusammen verbracht, eben in diesem Haus hier. Ein ernster Mann, auch wenn sie schon als kleines Kind durchschaut hatte, dass er versuchte, strenger zu wirken, als er eigentlich war. Wenn er sie dabei ertappte, wie sie mit Papa Jenka tanzte, hatte er nur gelacht und im Takt geklatscht. Und er war freigebig gewesen. Wollte sie sich ein Eis kaufen, bekam sie einen Hunderter, wenn er gerade kein Kleingeld hatte.
Die Großmutter kannte sie nur aus Erzählungen. Sie war wenige
Wochen vor ihrer Geburt gestorben. Inga hatte Bilder von ihr gesehen und erinnerte sich vor allem an ein Foto. Großmutter auf einem Stuhl sitzend, die Haare zum Knoten hochgesteckt und ein Kind auf dem Schoß. Das Kind war Onkel Ivar, und beide schauten in die Kamera, als teilten sie ein wichtiges Geheimnis. Sollte sie Solveig anrufen und fragen, wo das Bild jetzt war und wer den Brief geschrieben haben könnte? Solveig kannte sich in der Familiengeschichte ziemlich gut aus. Vielleicht hatte einer der vielen gottesfürchtigen Brüder, zu denen auch Solveigs Vater gehörte, eine heimliche Affäre mit der Briefschreiberin gehabt.
Der Lockruf ihres
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