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Der geheime Brief

Der geheime Brief

Titel: Der geheime Brief Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: M Ernestam
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auf einen braunen Karton, der ihr schon beim Aufräumen aufgefallen war. Sie ließ die Harke los und nahm den Karton aus dem Regal. Er war mit Papier gefüllt.
    Mit dem Karton unter dem Arm ging sie hinaus ins Licht und besah sich dessen Inhalt. Eine verrostete Büroklammer hielt vergilbte Zeitungsausschnitte zusammen, ein steif gewordenes Gummiband war um Werbezettel und Theaterprogramme gewickelt. Ganz unten lag ein Brief mit rußigen Rändern. Von wem das alles stammen mochte, ahnte sie nicht. Sie konnte sich nicht erinnern, diesen Karton schon einmal gesehen zu haben. Aber das bedeutete nicht, dass er nicht in all den Jahren dort gestanden haben könnte.
    Vorsichtig griff sie zu dem Brief. »By censor« konnte sie auf dem Umschlag lesen, und etwas weiter unten »under martial law«. Der Poststempel verriet, dass der Brief 1916 in Mombasa aufgegeben worden war. Vorsichtig nahm sie die hauchdünnen Blätter heraus und strich sie glatt. Sie waren blau beschrieben,
mit Schreibmaschine. Aldai. Nandi via Mombasa. B. E. Africa. Siebter November 1916.
     
    Geliebte …
    hatte versprochen, Dir zu schreiben, wenn ich mein Ziel erreicht hätte. Jetzt bin ich bereits seit vierzehn Tagen hier, und da sollte ich mein Versprechen einhalten. Aber Du weißt ja, wie es ist, wenn man sich an einem neuen Ort einrichtet.
    Schrecklich viel zu tun gibt es, einpacken und aufbrechen und nicht zuletzt auspacken.
    Ich befinde mich in der Missionsstation Aldai hoch oben in den Bergen. Sie macht nicht viel her, und es gibt kaum etwas zu erzählen. Ein Loch, das Gott wohl vergessen hatte, aber nun habe ich ihn daran erinnert. Es gibt hier ein Haus mit vier Zimmern. Es ist aus Stein gebaut und hat ein Blechdach. Aber die Räume haben keinen festen Boden, sondern nur festgetretenen Lehm. Die vielen Unebenheiten sind wirklich betrüblich. Anfangs gab es hier wohl eine Art Zement, aber der ist jetzt verschlissen, und es gibt nur noch hohe Berge und tiefe Täler. Wenn ich es mir leisten könnte, würde ich einen Holzboden legen lassen, aber das kostet zwischen 75 und 100 Kronen. Es ist so teuer, weil man die Bretter in Kijabe bestellen muss. Sie werden zuerst eine lange Strecke mit dem Zug und dann fast dreißig Kilometer weit auf den Köpfen der Eingeborenen transportiert. Und das ungeheuer steile Berge hoch.
    Ich habe schon mit dem Gedanken gespielt, sie selbst zu tragen. Aber dann würde ich ausgelacht. Hier begreifen sie nicht, was eine Frau mit Mut und Verstand ausrichten kann. Die Mühsal hier ist nicht schlimmer als bei unserer alten Hausmutter, selig sei sie in ihrem Unglück. Sie wird sicher vom Leibhaftigen heimgeholt, wenn er Zeit hat, aber eigentlich glaube ich, dass nicht einmal er sie da unten haben will.

    Dieses Haus und ein kleiner Schuppen, der als Lager dient, bilden die gesamte Missionsstation Aldai. Es ist noch keine zwei Jahre her, dass sie hergekommen sind, um die Station einzurichten und die Arbeit hier aufzunehmen. Wie gesagt: Es ist hier alles noch ganz neu.
    Überall fehlen Arbeitskräfte, ob im Osten oder Westen. »Scharen wandern zur ewigen Not, hört wie sie klagen in ihrer Not, Jesus spricht zum Soldaten: Geh und gib ihnen des Lebens Brot.« Klingt das heilig? Ich arbeite an meiner Ausdrucksweise, musst Du wissen. Aber mein Herz ist voll von dem, was sich mit Sprache nicht ausdrücken lässt. Als Heilsarmeesoldatin muss ich meine Zunge hüten. Wie sich das anhört. Heilsarmeesoldatin.
     
    In seltsamer Schreibweise wurde nun ein Alltag geschildert, der von der modernen Zeit sehr weit weg war. Eingeborene in bienenkorbähnlichen Hütten, Menschen, die auf allen vieren durch Dunkelheit und Schmutz krochen, zusammen mit Kühen und Ziegen, Kleidung aus Tierhaut, die den Körper nur notdürftig bedeckte. Und mit ihnen verhält es sich so wie mit unseren Ureltern, sie wussten nicht, dass sie nackt waren.
     
    Lange Nägel, die aussehen wie Krallen. Ja, es überrascht mich, dass die hier so sehr mit der Zeit gehen und wissen, was modern ist, auch wenn sie in anderer Hinsicht so weit zurückliegen. Von manch anderer Mode haben sie sich gänzlich befreit, und deshalb sind sie den heutigen Frauen weit voraus. Unsere Geschlechtsgenossinnen daheim werden sicher auch bald erkennen, dass es sich nicht lohnt, sich alle die Mühe mit Nähen und Bügeln und Waschen zu machen. Natürlich ist eine nackte Frau oft mehr wert als eine angezogene. Hier ist das eine Selbstverständlichkeit.
    Ich bin jedenfalls glücklich darüber, hier zu

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