Der geheime Brief
Handys brachte sie dazu, auf die Uhr zu schauen. Halb zwölf. Sie rannte ins Haus und fischte das Telefon aus der Jackentasche.
»Inga.«
»Bist du gerannt?« Niklas hörte sich überrascht an.
»Ich komme nur aus dem Garten. Im Schuppen habe ich alten Schrott aussortiert.«
»Dass du das wirklich sofort angegangen bist …«
»Wo es mir gestern so schlecht ging?«
»Entschuldige.« Danach wurde es still. Niklas holte Luft, wie um etwas zu sagen. Sie kam ihm zuvor.
»Du brauchst dich nicht zu entschuldigen. Es ist nicht so … es ist schwer zu erklären. Diese Stimmungsschwankungen … dass ich keine Ruhe finde.«
Das war ein Gefühlszustand, den sie nicht einmal sich selbst eingestehen mochte. Seltsam, dass sie nun hier stand und mit Niklas darüber redete.
»Jedenfalls hatte ich es mir in den Kopf gesetzt, im Schuppen Ordnung zu schaffen. Die Sonne schien, und ich habe im Garten gefrühstückt. Übrigens, danke für den Nusskäse. Und alles andere, was du gekauft hast.«
»Das war doch wohl das Mindeste, was ich tun konnte.«
»Es hat mir viel bedeutet. Ich habe übrigens etwas Spannendes gefunden.«
»Was denn?« Niklas hörte sich interessiert an, möglicherweise war er erleichtert, weil sie das Thema gewechselt hatten.
»Einen Karton mit alten Zeitungsausschnitten und einem Brief. Den Rest habe ich bisher nur überflogen. Aber den Brief habe ich gelesen. Datiert 1916. Aus Afrika, zensiert. Von einer Frau, die in eine Missionsstation gereist war, um der Urbevölkerung zu predigen.«
»Und wer hat diesen Brief geschrieben?«
»Das weiß ich nicht. Alle Namen sind durchgestrichen. Aber meine Großeltern kannten einige Missionare. Und die Brüder meiner Großmutter waren allesamt in der Kirche aktiv.«
»Glaubst du, die könnten etwas wissen?«
»Vielleicht. Mein Vater hätte es natürlich gewusst.«
Sie hatte ihn schon länger nicht mehr erwähnt, da das ihre Trauer eher vergrößerte als linderte. Ihre morgendliche Kraft nahm jetzt ab. Sie schaute sich um und dachte, dass sie dort Ordnung geschaffen hatte, wo es am wenigsten nötig gewesen war. Draußen im Gras lag ein großer Haufen Schrott, den sie zur Müllgrube schaffen oder abdecken musste. Es könnte Regen geben. Die Nachbarn schienen nicht zu Hause zu sein, wie ihre schwarzen Fenster verrieten. »Hast du ein Auto mit Abschleppvorrichtung? «
»Apropos Afrika?«
»Apropos Schrott. Er liegt bei mir im Gras. Ich kann es aber auch in zwei Touren mit meinem Auto schaffen. Das steht auf dem Festland.«
Sie verstummte. Was spielte es eigentlich für eine Rolle, ob der Kram dort herumlag, bis irgendjemand kam und den gesammelten Abfall der Insel holte? Was spielte überhaupt eine Rolle?
»Ich habe einen Wagen mit Anhänger. Wir können das gleich erledigen, wenn du willst. Ich wollte mir für den Rest des Tages ohnehin freinehmen. Wir könnten einen Spaziergang um die Insel machen und danach bei mir essen oder uns bei dir etwas kochen. Anita bleibt noch einen Tag in Göteborg.«
Sollte sie die Form wahren oder allein bleiben? Sie wusste es nicht und dachte an die Tabletten, die noch immer unangebrochen in ihrem Koffer lagen.
»Du brauchst dich nicht sofort zu entscheiden.« Niklas schien ihr Zögern zu verstehen.
»Aber ich komme nachher mit dem Anhänger vorbei. Zur Müllhalde zu fahren ist immer ein Vergnügen. Seltsam, aber wahr. Und dann werden wir ja sehen, was du dir zutraust. Du musst jedenfalls etwas essen.«
»Bist du sicher?«
»Weil du gestern gegessen hast, meinst du? Wir sehen uns nachher.«
Er legte auf.
Sie starrte das stumme Telefon an und dachte, dass sie Solveig anrufen müsse. Es war vielleicht idiotisch, eine alte Verwandte anzurufen und sich nach einem fast hundert Jahre alten Brief zu erkundigen, statt sich zu waschen und anzuziehen.
Aber was hatte die unbekannte Frau in diesem Brief geschrieben? Etwas darüber, dass die Afrikanerinnen auf ihre Weise moderner seien als die Schwedinnen, denen es solche Probleme bereitete, zu waschen und zu bügeln. Vielleicht war auch das hier ein Zeichen, wo sie doch auf eines gewartet hatte. Was würde Mårten sagen? Dass sie das machen sollte, was ihr am besten bekam.
Was ist der Sinn des Lebens? Mit dir zusammen glücklich zu sein.
Sie konnte sich nicht aufraffen, ihr Adressbuch zu holen.
Stattdessen ließ sie sich von einem unbekannten Menschen mit Eskilstuna verbinden, wo Solveig noch immer allein lebte, obwohl sie jetzt auf die achtzig zuging. Vermutlich war es ihre
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