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Der geheime Brief

Der geheime Brief

Titel: Der geheime Brief Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: M Ernestam
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mich los, ich schaute zur Decke hoch und wusste es. Die Engel waren nicht da, wenn man sie brauchte.
    »Liebe Rakel, schau nicht so verängstigt. Ich wollte dir keinen Schrecken einjagen.«
    »Lass mich los!«
    Ich hob die Hand, um ihn auf die Wange zu schlagen, aber er fing sie blitzschnell ein. Ich zog sie zurück, rannte die Treppen hinunter, ließ mich in mein Bett fallen und versuchte, zu einem nachlässigen Gott zu beten. Ich wollte meine Gefühle in der Decke vergraben, aber sie waren zu stark. Bald klopfte Vater an die Tür und kam herein.
    Er fragte, und ich antwortete. Auch Mutter kam und hörte zu. Ich mischte Wahrheit und Lüge, als ich erzählte, wie das Licht zu flackern begonnen und ich gespürt hatte, dass jemand mich anstarrte. Mutters Gesicht verriet nicht, was sie dachte.
    »Vielleicht hatte einer von den Jungen oben etwas zu erledigen. Falls wir nicht eine unbekehrte Ratte haben …«, überlegte sie ungewohnt scherzhaft.

    Vater wirkte nicht überzeugt. Ich schmiegte mich in seine Arme, um seinen Blick nicht erwidern zu müssen. Unsere Bindung war bedroht.
    »Wir glaubten, Banjo und Klavier zu hören«, sagte Vater über meinen Kopf hinweg. Ich flüsterte, Anton sei oben gewesen und wieder gegangen, aber ich bekam keine Antwort. Als meine Eltern in die Küche gingen, war ich schneller erwachsen geworden, als ich gewollt hatte.
    Anton verschwand. Beim Abendessen war sein Stuhl nicht mehr da. Meine Mutter erwähnte nur kurz, er sei Hals über Kopf aufgebrochen, nachdem ihm eine Mitfahrgelegenheit nach Norden angeboten worden sei. Er lasse alle grüßen und werde sich immer an seinen Besuch bei uns erinnern und bedauern, die Sonntagsandacht verpasst zu haben. Irgendwann wolle er zurückkommen.
    Kurze Zeit darauf fingen meine Brüder an, mich anders anzusehen und stärker darauf zu achten, was ich unternahm. Sie schränkten meine Freiheit beim Spiel und die abendlichen Streifzüge ein. Bald darauf machte Mutter mir klar, wie es zuging, dass eine Frau ein Kind bekam. Zufall oder Ahnung? Nur Mutter und die höheren Mächte wussten es.
    Niemand ahnte, dass ich in der Nacht, nachdem Anton uns verlassen hatte, heimlich auf den Dachboden schlich, ehe Mutter das Bett abzog. Ich fiel auf die Knie und legte den Kopf auf das Bett. Anton war noch als schwache Ahnung in den Falten vorhanden. Ich sprach ein Gebet. Als ich die Hand unter das Kissen schob, fand ich ein Taschentuch, das zerknüllt war, aber sauber. Es duftete nach ihm. Ich nahm es und steckte es in die Tasche.
    Ich konnte niemandem sagen, dass ich Anton böse war, weil er mich mit meinen Gefühlen alleingelassen hatte. Ich konnte auch nicht sagen, dass er mir fehlte. Als ich wieder in mein eigenes
Bett kroch, dachte ich, die Engel samt ihrer Haarpracht sollen uns nur in die Irre führen.
    Und ich hatte recht. Am nächsten Morgen sah ich, dass ein Engel Hörner bekommen hatte. Sie ragten aus den blonden Haaren hervor. Ich kann beschwören, dass ich sie nicht selbst im Schlaf gezeichnet hatte, mit der bunten Kreide aus der Schule, wie Mutter mir empört vorwarf.
    Am selben Morgen entdeckten wir, dass die Silberleuchter aus dem Gebetssaal verschwunden waren.

Kapitel 4
2007
    Von der Sonne gekitzelt, drehte sie den Kopf und schaute auf die Uhr. Halb neun. So lange hatte sie geschlafen? Ein Wunder.
    Noch dazu hatte sie geträumt. Sie und Mårten waren mit dem Auto irgendwo hingefahren. Vielleicht war sie deshalb aufgewacht und fühlte sich glücklich, ehe die Realität sie einholte. Vielleicht lag es auch daran, dass sie im Traum Musik gehört hatte.
    Sie stand auf und sah, dass die Strickjacke auf den Boden geglitten war. Vorsichtig hob sie sie auf und hielt sie für eine Weile an ihr Gesicht. Der Boden war kühl, als sie in die Küche ging, den Kühlschrank öffnete und dankbar an Niklas dachte, der offenbar viel mehr mitgebracht hatte, als er ihr erzählt hatte. Im Türfach lag ein wenig Nusskäse, ihre alte Lieblingssorte. Rasch kochte sie eine Kanne Tee und stellte alles auf ein Tablett. Sie wickelte sich in eine Decke, steckte die Füße in ein Paar Holzschuhe und ging hinaus.
    Über dem verfaulten Laub und den kahlen Zweigen im Garten ruhte ein besonderes Licht. Wassertropfen funkelten auf den Blättern, die Steine waren blank vor Feuchtigkeit. Sie kannte dieses Gefühl. Der erste Atemzug draußen am ersten Ferienmorgen. Die Gewissheit, dass sie diese Luft noch viele Wochen lang einatmen würde. Ein Versprechen von Freiheit, ohne Grenzen zwischen

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