Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der geheime Brief

Der geheime Brief

Titel: Der geheime Brief Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: M Ernestam
Vom Netzwerk:
sie gen Himmel. Sie verfluchten Gott, der den holte, der nicht geholt werden dürfte. Angesichts des Verlusts kämpften sie mit ihren Zweifeln und ihrem Entsetzen. Der Einzige, der niemals zweifelte, war Vater. Er kämpfte gegen jeden Rückschlag und mühte sich immer wieder ein Stück weiter hoch, nur um dann noch tiefer abzustürzen. Und doch strahlten seine Augen ab und zu in blauer Munterkeit. Wenn er konnte, sorgte er dafür, dass alle, die zu Besuch kamen, getrocknete Äpfel bekamen.
    Eines Tages, als die Schmerzen besonders stark waren, fragte ich ihn, ob er nicht wütend auf Gott sei.
    »Nein, das bin ich nun wirklich nicht«, antwortete er. »Aber ich bitte um ein wenig Barmherzigkeit«, fügte er nach einer Weile hinzu. Ich musste hinter vorgehaltener Hand husten, um meine Tränen zu verbergen.
    »Ich muss Wasser lassen. Kannst du mir den Topf reichen?«

    »Ja, Vater. Soll ich so lange nach draußen gehen?«
    »Nein, bleib nur. Es macht nichts, dass du hier bist. Wasser lassen ist jetzt das Einzige, das ich noch allein schaffe. Ich habe keinen Stolz mehr.«
    Wurde ihm Barmherzigkeit zuteil? Ich weiß noch immer keine Antwort. Ich weiß nur, dass der Arzt uns am Ende in die Küche rief und erklärte, es gehe dem Ende entgegen. Mutter fuhr hoch und schlug die Hände vors Gesicht. Markus schob seinen Stuhl so heftig zurück, dass er umkippte. Hannes rannte auf den Dachboden und schloss sich dort ein. Die ganze Nacht hörten wir sein ängstliches Gebet. Es verstummte erst gegen Morgen, als Mutter an die Tür klopfte und ihm etwas zu trinken reichte.
    Ich fragte Vater, woran er dachte.
    »Ich finde, unser Herr hätte mir das hier ersparen können«, antwortete er. Am nächsten Tag sagte er, er wolle kämpfen.
    Der Arzt meinte, er werde niemals wieder gehen können.
    »Wenn andere das geschafft haben, werde ich das ja wohl auch schaffen«, sagte Vater.
    Wenn Vater so weit genesen würde, dass wir ihn bei schönem Wetter im Rollstuhl aufs Feld hinausfahren könnten. Wenn wir zusammen Kaffee trinken könnten. Wie würde ihm dann zumute sein? Würde er sich freuen, weil er noch lebte und frische Luft einatmen konnte, oder würde er betrauern, was er verloren hatte?
    »Darüber muss man nachdenken«, antwortete er, als ich ihn fragte. Danach fasste er seine Entscheidung.
    Als das Fieber und der Husten kamen und der Arzt von Medikamenten sprach, sagte er nein.
    »So geht das einfach nicht«, flüsterte er, bis zur Unkenntlichkeit abgemagert. Nun gab es weder Hoffnung noch Trost, sondern nur Warten. Mitten in diesem verdammten Wirbelwind
verspürte ich Ruhe und wusste doch nicht, was später geschehen würde. Nur, dass alles für immer anders sein würde.
    Wir hielten abwechselnd bei ihm Wache. Fast immer zusammen mit Mutter, deren Haare in dieser Zeit weiß wurden. Es war ein Glück, dass wir die Tiere hatten. Sie weinten nicht, sondern verlangten Fürsorge. Uns tat es am meisten weh, alles erledigen zu müssen und zu sehen, dass es auch ohne Vater ging. So, wie die Wellen sich um etwas schließen, das ins Wasser geworfen wurde - als sei nichts geschehen. »Was man muss, das schafft man«, sagte Mutter. Wir taten, was wir tun mussten.
    In der letzten Nacht schlief Mutter mit dem Kopf auf dem Küchentisch ein. Hannes betete auf dem Dachboden, und wir anderen lagen erschöpft in unseren Betten. Ich sah mich im Traum mit Vaters Augen, hörte, wie er mich rief, und wusste, dass es so weit war. Ich schlich nach unten und sah, dass Vater, der den ganzen Tag geschlafen hatte, wach war. Seine Kissen waren zerknittert, die Luft schwer. Ich öffnete das Fenster, und das Unausweichliche wurde hereingeweht. Vaters Kopf wirkte klein, seine Beine und Arme waren kraftlos. Nur die Augen lebten und leuchteten.
    »Es ist so gekommen, wie ich geglaubt habe«, hauchte er.
    »Wie denn?«, fragte ich und nahm seine Hand.
    »Dass ich aufhören darf.«
    Vaters flehender Blick, wenn er trinken musste. Ich holte Wasser, hob es an seine Lippen und vergoss es über der Bettdecke. Unendliche Stunden. Der Schlag der Uhr an der Wand, wie ein unbarmherziges Herz. Vaters Stimme.
    »Ihr wart in dieser ganzen Zeit ein Segen.«
    Meine Hand, die seine weißen Finger umschloss. Seine Hand noch immer größer als meine.
    »Du bist ein Engel. Ich weiß nicht, wie ich dir danken soll.«

    »Wenn ich das gewesen wäre, Vater. Dann wärst du doch auch da gewesen.«
    »Ja. Das wäre ich. Ich wäre da gewesen.«
    Und ein letztes Flüstern.
    »Ich habe Schulden

Weitere Kostenlose Bücher