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Der geheime Brief

Der geheime Brief

Titel: Der geheime Brief Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: M Ernestam
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    Voller Unruhe reichte ich beim Mittagessen, wo statt Alltagsgeplauder lange Pausen vorherrschten, Mutter den Brief. Sie nahm und las ihn schweigend. Nach einer Weile schaute sie auf, und ich sah, dass ihre Augen Farbe verloren hatten. Ihre Haare und ihr Blick leuchteten silberweiß.
    »Ich lasse dich nie im Leben gehen. Nur, damit du’s weißt«, konnte sie noch sagen, ehe Hannes ihr den Brief wegnahm und den anderen vorlas.
    Drei Wochen später war ich auf dem Weg nach Göteborg.
    Am Abend vor der Abreise ging ich auf den Friedhof und
sprach mit Vater. Ich trug Markus’ Hosen, in dem Bewusstsein, dass es damit ab morgen vorbei wäre. Die Erde sah frisch aus, jemand hatte Zweige auf das Grab gelegt. Vorsichtig legte ich die mitgebrachten Äpfel dazu.
    »Vater«, flüsterte ich. »Ich verlasse morgen den Hof und fahre nach Göteborg. Ich werde als Dienstmagd arbeiten.«
    Ein Windstoß versetzte die Äpfel leicht in Bewegung. Mir schien, dass Vaters Atemhauch mit ihnen spielte und er mir damit seinen Segen gab. Ich ergriff eine Faust voll Erde.
    »Vater«, flüsterte ich dann. »Wie soll ich das schaffen?«
    Der Wind heulte über den Friedhof. Die Grabsteine drehten mir ihre ausdruckslosen Gesichter zu. Ich lauschte, hörte aber nichts. Also musste ich es mir selbst sagen. Dass er bei mir sein würde bis ans Ende aller Zeiten.
     
    Mutter und Hannes brachten mich zum Bahnhof. Sie wagten es als Einzige, mir beim Abschied in die Augen zu sehen. Meine anderen Brüder hatten mich auf dem Hofplatz umarmt, hatten gesagt, ich solle schreiben und bald wieder nach Hause kommen. Unmittelbar vor der Abfahrt ging ich ins Abteil, hievte meinen Koffer allein ins Gepäcknetz und nahm den Korb, den Mutter mir reichte. Ich trug ein schwarzes Kleid und hatte mir den Zopf mehrmals um den Kopf gewickelt. Meine Stiefel hatte Hannes mit Ruß und Spucke gewienert.
    Mutter und Hannes verließen den Zug und blieben auf dem Bahnsteig stehen. Mit zusammengepressten Lippen verkniffen sie sich ihre Gefühle, genau wie ich. Nach den vergangenen Wochen hatten wir keine Kraft mehr dafür.
    Erst, als die Abfahrt verkündet wurde und die Lok loshustete, streckte Mutter die Hand zum offenen Fenster aus. Ich beugte mich hinaus und nahm sie. Sie war rau, aber warm.
    »Pass auf dich auf, Rakel. Schreib, und vergiss nicht, dass es
jemanden gibt, der immer bei dir ist, wenn du nur die Hände faltest. Du weißt, was ich meine«, sagte sie.
    Hinter ihr hörte ich, wie Hannes versuchte zu lachen. »Das wird schon gut gehen in der großen Stadt, kleine Schwester. Gott segne dich.«
    Der Zug fuhr an. Mein Magen stülpte sich um. Ich presste die Stirn an die Fensterscheibe und sah, wie Mutter und Hannes sich vor dem Hintergrund meines Heimatdorfes in zwei dunkle Silhouetten verwandelten. Als sie verschwunden waren, ließ ich mich zurücksinken, sah, wie der Dampf der Lokomotive vor dem Fenster vorbeitrieb, und nickte für eine Weile ein.
    Als ich die Augen öffnete, war der Korb von meinem Knie gerutscht und stand neben mir auf dem Boden, noch immer bedeckt mit einem Küchenhandtuch. Mir gegenüber saß ein junger Mann. Er war wohl etwas älter als ich und hatte blaue Augen wie Vater. Blonde Haarsträhnen lugten unter der Schirmmütze hervor. Er trug grobe Stiefel, und seine Jacke war an den Ellbogen geflickt. Neben ihm lehnte ein abgetragener Rucksack.
    »Guten Morgen, Fräulein«, sagte er munter. »Ihr Korb wäre fast umgekippt, aber ich konnte ihn noch retten. Ich glaube, das war der Mühe wert. Der scheint ja mit Essen vollgepackt zu sein.«
    Letzteres sagte er in einem sehnsüchtigen Ton. Ich gab keine Antwort, sondern schaute aus dem Fenster, wo die Landschaft in klaren Herbstfarben vorüberfegte.
    Hier im Krankenhaus frage ich mich oft, wozu Stolz gut sein soll. Der arme Jakob, der den Duft von Mutters selbstgestopften Würsten wahrnahm und einige Worte wechseln wollte. Mit mir, einer Siebzehnjährigen, die sicher nicht hässlich war, aber ebenso abgenutzte Ärmel hatte wie er selbst. Wie selig wäre ich
heute, wenn ein junger Mann wie Jakob in mein Zimmer käme und auf ein Plauderstündchen wartete, wenn es mir behagte, zu erwachen. Es wäre mir sogar egal, dass es in meinem Zimmer nach Krankheit und Ende riecht.
    Ich würde alles tun, um ihn zum Bleiben zu bewegen. Ich würde ihm die überflüssigen Süßigkeiten anbieten, die mir irgendwer mitgebracht hat. Ich würde ihn nach seinem Leben fragen, um ihn nicht mit dem meinen zu langweilen. Ich

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