Der geheime Brief
auf dem Hof …«
Glaubst du, du musst mich dafür entschädigen, dass ich hier sitze, Vater? Verstehst du nicht, dass du mir so viel gegeben hast? Du, der mir das Leben gegeben hat?
Unruhiger Schlaf. Atemzüge, die das Ende ankündigen. Meine Rufe, die Familie, die sich versammelt. Seine Hände in unseren. Ein letzter Atemhauch.
Nichts wird je wieder so sein, wie es war. Ja, ich weiß, was Trauer ist. So unendlich und so wohltuend.
Vater im selbstgezimmerten Sarg. Aus den feinsten Brettern, ohne Astlöcher oder Unebenheiten. Vater war da und doch nicht da. Gekleidet in seinem einzigen, und deshalb besten schwarzen Anzug und ein weißes Hemd. Frischgeputzte Schuhe. Blumen auf der Brust. Sag Lebewohl, danach wirst du dich besser fühlen. Nicht anfassen, nicht berühren. An die Wochen danach kann ich mich nicht erinnern. Ich weiß nur, dass wir uns um den Küchentisch versammelten, dass Mutter sich innerlich verhärtet und ausgeweint hatte. Auf dem Tisch waren Papiere ausgebreitet, die sich auf den Hof bezogen, und ich weiß noch, dass meine Brüder untereinander tuschelten. Dann saß ich vor den Engeln und hatte ein seltsames Gefühl unter meinen Schulterblättern. Siebzehn Jahre und vaterlos, so erhebe dich denn, nimm deine Schuhe und wandele. Jetzt musst du fliegen lernen, denn deine Brüder haben den Sarg eures Vaters zur letzten Ruhe geleitet. Die Trauergäste haben sich den Lehm von den Schuhen gewischt und Käsekuchen mit Schlagsahne und Himbeermarmelade gegessen.
Ich verschwand im Wald. Ging über meine und Vaters Wege,
versuchte, ihn in den Birken oder zwischen den Beeren zu sehen. Ich legte meine Röcke ab, zog die abgelegten Hosen und Hemden meiner Brüder an, versteckte meine Zöpfe unter einer Schirmmütze und kletterte auf die Bäume. Ich wollte mit Vaters Stimme singen, fand aber nur meine eigene, die weinte, wenn sie über unsere alten Melodien stolperte. Ich lief barfuß weiter und kehrte mit schmutzigen Füßen heim. Mutter hatte keine Kraft, um mich zurechtzuweisen.
Eines Tages, als ich zur Lichtung kam, hatten meine Träume mich schlimmer als sonst gehetzt. Vaters Blick hatte mich gesucht, und ich hatte versucht, nach seinen Händen zu greifen. Jetzt streckte ich mich im Gras aus und pfiff auf die Beherrschung. Kehrte die Handflächen der Sonne zu. Ich spürte eine Bewegung, ein Kitzeln. Schaute auf.
Auf meiner Hand trippelte eine Kohlmeise unruhig hin und her. Sie schaute mich an und kratzte mit den Krallen über meine Haut, während Vaters Stimme in der Stille flüsterte. Ich bin immer bei dir, Rakel. Wenn du mich lässt.
Die Kohlmeise verschwand in meinen Gedanken, und ich wanderte nach Hause. Ich sah das Zucken um Mutters Mund und hörte meine Brüder seufzen. Ich wusch mir die Hände und fing an, Kartoffeln zu schälen. Einige Wochen darauf stand in der Göteborger Handels- und Seefahrtszeitung die Annonce genauso, wie ich sie geschrieben hatte.
Junges wohlerzogenes Mädchen vom Lande, das durch den Verlust ihrer Eltern einsam in der Welt steht, wäre dankbar, von einer guten, gebildeten Familie als Hilfe angenommen zu werden. Freundlich, Erfahrung als Köchin, bereit, im Sommer mit aufs Land zu gehen. Antworten unter Chiffre ›Bauerntochter‹ an die Redaktion.
Es war eine Mischung aus den Anzeigen, die ich in früheren Ausgaben dieser Zeitung gelesen hatte, wenn ich beim Kaufmann darin blätterte. Er ließ sie sich bisweilen kommen, und ich hatte immer gern über die Küste gelesen. Das Meer lockte mich, ohne dass ich gewusst hätte, warum, und ich wollte von Vaters Tod so weit fort wie nur möglich. Zwar machte mir diese Vorstellung Angst. Aber die Gefahr, als unverheiratete Tochter auf dem Hof bleiben zu müssen, wenn meine Brüder weggingen, war noch beängstigender.
Außerdem war mir klar, dass es für meine Familie finanziell knapp werden würde. Die Pläne, uns in Uppsala studieren zu lassen, waren aufgeschoben worden, jetzt ging es darum, wer den Hof übernehmen und wer sich anderswo sein Brot verdienen sollte. Ehe überhaupt irgendwer dabei an mich gedacht hatte, hatte ich meinen Brief an die große Westküsten-Zeitung aufgegeben. Bald traf die Antwort einer Frau Amanda Otto aus Vasastaden in Göteborg ein. Sie bot mir einen Platz als Hausjungfer für sechzig Kronen im Monat an. In ihrem Haus konnten sie mich nicht unterbringen. Aber es bestand die Möglichkeit, in einem anderen Stadtviertel mit einem weiteren neuen Dienstmädchen ein Zimmer und eine Küche zu
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