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Der geheime Brief

Der geheime Brief

Titel: Der geheime Brief Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: M Ernestam
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drückte sie Solveig weg, hörte aber noch, dass ihre Verwandte versprach, sich zu melden. Draußen war es noch immer hell, aber der Nachmittag hatte die Felsen schon angehaucht und die Farben vertieft. Bald würde es dunkel werden, wie es im November eben dunkel wird. Ein Monat voller Angst für viele, aber nicht für sie, da ihr Vater mitten im November phantastische Geburtstagsfeste veranstaltet hatte.
    Sie starrte das Bild an, an dem sie bestimmt schon hundertmal vorbeigegangen war, und sah ein, dass es sich um ein ziemlich stümperhaftes Landschaftsbild handelte. Es hatte schon immer hier gehangen, mit seinen Heuballen und Bauernhöfen. Sie goss sich Tee ein, der in der Kanne kalt geworden war, und trat mit der Tasse in der Hand vor den Spiegel bei der Haustür. Ihre Haare waren ziemlich gewachsen und hingen ihr über den Rücken. Die lila Schatten unter den Augen ließen sie dunkler aussehen als sonst, und ihre Haut wirkte wie graues Porzellan. Als hätte sie die Sonne seit Jahren nicht mehr gesehen, und dabei war sie doch vorhin noch draußen gewesen. Ihr Hals war zu dünn. An ihm hing ein Silberkreuz, das Geschenk zu ihrem achtzehnten Geburtstag, das als Familienkleinod galt. Seitdem hatte sie es immer getragen.

    Bei diesem Gedanken ging sie wieder in den Schuppen, wo immer noch der Karton stand. Sie schob die Hand hinein und erwischte eine Zeitungsseite mit Kinospielplänen. Aufgeführt wurde die Romanze einer Varietékünstlerin. Eine Warnung für Ehemänner. Am Abgrund des Verbrechens. Der Triumph der Liebe. Kriminalfall, psychologisches Drama, Lustspiel. Sie hörte ein Geräusch, schaute auf und sah Niklas um die Ecke biegen. Zeit, den Müll vom Grundstück zu schaffen.
    Besser, sie fingen sofort damit an.

     
     
     
    »Die deutsche Organisation nachts ist sehr gut. Ihr System von Erkennungssignalen ist außergewöhnlich. Unseres ist de facto nicht existent. Ihre Suchscheinwerfer sind unseren überlegen und überaus effektiv. Dadurch erzielen sie ausgezeichnete Resultate. Ich muss wider Willen zugeben, dass wir für Nachtangriffe viel von ihnen lernen können.«
     
    John Jellicoe, Admiral der British Navy

Kapitel 5
1959
    Als ich mich heute auf den Stuhl setzte und hinausschaute, brach ich in Lachen aus, um mich aufzuheitern. Das mache ich manchmal, und ich werde dann wirklich froher, auch wenn ich mir töricht vorkomme. Nach einer Weile schaute einer der Weißkittel herein und wollte wissen, wie es mir gehe. Sie halten mich sicher für verrückt. Mein unmotiviertes Lachen macht ihnen Angst, und dabei ist es nur der Versuch, mich aufzumuntern und meine Sehnsucht zu überspielen.
    Ich habe frische Blumen bekommen, die die Schwester auf den Nachttisch stellte. Sie begreift vermutlich nicht, wozu die Blumen gut sein sollen. Aber sie wagt nicht, etwas anderes zu tun. Ich bekomme viele Besucher, so dass die Weißkittel freundlich sind. Vielleicht haben sie auch ein wenig Angst vor mir. Weil ich mich nicht aufspiele.
    Ein Tisch, ein Stuhl, ein Kleiderschrank. Ein spärlich möbliertes Zimmer. Seltsam. Wir brauchen nichts, wenn wir kommen, und nichts, wenn wir gehen. Nur die Zeit dazwischen glauben wir mit Dingen Ereignissen und Erlebnissen füllen zu müssen, damit es im Leerraum, der sich sonst bilden würde, nicht widerhallt. Ich dachte daran, als er mich zuletzt besucht hat. Er, mein Lebenskamerad, dem ich so viel gegeben habe, wie ich nur konnte, ohne dass es gereicht hätte. Wenn ich vorwärts wollte, hat er mich gebremst. Er vergaß viel zu oft zu leben.

    Er hielt meine Hände, streichelte meine Wangen und sah mich mit derselben tiefen Liebe an, die er sein Leben lang ausströmte. Ich war ihm meistens treu, aber nicht immer in meinen Gedanken. Das werde ich immer bereuen, aber ein wenig ist er auch selbst schuld daran.
    Das Mädchen wird bald geboren werden, und dann geht mein Leben seinem Ende entgegen. Deshalb eilt es. Aber die Eile ist wie der Sturm, in der Mitte gibt es einen Ort der Ruhe, und dort befinde ich mich jetzt. Und ich weiß, was Trauer ist. Wie es ist, einen geliebten Menschen zu verlieren und zu spüren, wie die Sehnsucht das Sichere und Lichte zerfrisst. Es ist, wie den Schritt über den Klippenrand zu machen und zu wissen, dass es keinen Weg zurück gibt. Man muss mit den Flügeln schlagen und fliegen lernen.
    Als Vater müde wurde, wollten wir das nicht verstehen. Es schien unvorstellbar, dass er verschwinden könnte. Als es so weit war, ballten meine Brüder die Fäuste und hoben

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