Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der geheime Brief

Der geheime Brief

Titel: Der geheime Brief Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: M Ernestam
Vom Netzwerk:
würde seine Himmelsaugen und seine offene Seele genießen. Ich würde wünschen, dass er mich niemals verließe.
    Aber ich war siebzehn Jahre alt und gesund.
    »Wie heißen Sie, Fräulein?«
    »Glauben Sie wirklich, dass ich einem Wildfremden meinen Namen verrate?«
    Er streckte die Hand aus, ohne darauf zu achten, was ich gesagt und wie ich es gesagt hatte.
    »Jakob«, sagte er, immer noch freundlich.
    Widerwillig hielt ich ihm meine Hand, hin, und er nahm sie sofort. Seine Handfläche war von Schwielen bedeckt.
    »Rakel.« Ich versuchte, meine Hand an mich zu ziehen, aber er hielt sie fest, drehte und wendete sie.
    »Du hast schöne Hände, Rakel. Und sie sind so schlank wie deine Füße.«
    »Andere reden eher über meine Haare.«
    Ich weiß nicht, warum mir das herausrutschte. Vielleicht wollte ich die Erfahrene spielen. Auf jeden Fall wollte ich ihm klarmachen, dass ich für Schmeicheleien nicht empfänglich war. Jakob lachte, und nach einer Weile stimmte ich ein. Ich konnte mein Lachen einfach nicht unterdrücken.
    »Klar. Aber manche sehen mehr als nur das Augenfällige«, erwiderte er.
    »Wohin fährst du?«, fragte er. Ich schielte zu meinem Proviantkorb
hinüber. Sollte ich ihm etwas anbieten? Gott allein wusste, wann ich wieder etwas zu essen bekommen würde. Der Herr des Hauses würde mich, so hatten sie geschrieben, vom Bahnhof abholen. Sollte er es nicht schaffen, käme jemand anderes. Wir würden zuerst zu meinem zukünftigen Zimmer fahren, anschließend zu meinem neuen Arbeitsplatz. Ich hatte keine Ahnung, ob ich dort etwas zu essen bekäme. Die fünf Kronen, die Mutter mir »sicherheitshalber« zugesteckt hatte, brannten in meinem Brustbeutel. Ich hatte versprochen, dieses Geld nur im alleräußersten Notfall anzubrechen.
    »Ich fahre nach Göteborg, und da werde ich bei einer Familie in Vasastaden arbeiten.«
    Ich betonte »Vasastaden«, aber Jakob schien davon nicht beeindruckt zu sein.
    »Weißt du, wie die Familie heißt?«
    »Die Frau, die mir geschrieben hat, heißt Amanda Otto.«
    Erst jetzt ging mir auf, dass ich bereits die Vorsicht Fremden gegenüber, die mir meine Familie eingeschärft hatte, zu vergessen drohte. Ich musste mich auf meinen Instinkt verlassen und darauf, dass Flicken an den Ellbogen verbinden.
    »Otto? Ob das wohl der Schuhfabrikant ist? Dann wäre es ein feines Haus. Der Fabrikbesitzer selbst soll ein umgänglicher Bursche sein. Sein Ehegespons aber hat angeblich Haare auf den Zähnen. Du wirst doch nicht bei denen wohnen?«
    »Nein, ich soll Zimmer und Kochnische mit einem anderen Dienstmädchen teilen.«
    »Das klingt schon besser.«
    Ein netter Hausherr und eine gemeine gnädige Frau. Umgekehrt wäre es besser gewesen. Das dachte ich schon im Zug. Und ich sollte recht behalten.
    Aber ich verdrängte mein neu erworbenes Wissen und beugte mich über meinen Korb. Vorsichtig entfernte ich das Handtuch.
Mutter hatte Brote mit Butter und getrocknetem Speck vorbereitet, Würste, Dörrobst und eine Flasche Dünnbier. Außerdem Gläser mit Himbeerkompott und Marmelade. Ganz oben lag ein Weizenfladen mit Puderzucker. Außerdem eine Petroleumlampe, »falls das elektrische Licht nicht funktioniert. «
    Jakob starrte aus dem Fenster. An seinem Hals pochte eine Ader. Plötzlich ging mir auf, dass er nicht einfach nur Hunger gehabt hatte. Er war ausgehungert. Meine Stimme klang neutral, möglichst rücksichtsvoll.
    »Ich kann das nicht alles selbst aufessen. Möchtest du etwas abhaben?«
    Als ich Jakob essen sah, begriff ich, was echter Hunger mit einem Menschen machen kann. Wir hatten oft wenig gehabt und Brot und Milch teilen müssen, aber Mutter hatte doch immer aus der Natur alles herausholen können. Wir hatten zwar hungrig gegessen, aber mit Manieren. Jakob schlang wie eine der Maschinen, die jetzt in Fabriken und Geschäften aufgestellt wurden. Seine Kiefer bewegten sich mechanisch, seine Finger umschlossen das Essen, als ob es ihm jemand entreißen wollte. Wenn er trank, dann mit geschlossenen Augen. Ich gab ihm ein belegtes Brot, dann noch eins und schließlich ein Stück Weizenfladen. Er verzehrte jeden Krümel und leckte sich vorsichtig die Finger.
    »Woher kommst du?«
    Aus dem Norden, sagte er. Sein Vater sei Schuhmacher, was sein Interesse am Schuhfabrikanten Otto und an meinen Füßen erklärte. Seine Mutter half im Schusterladen aus und verdiente durch Näharbeiten etwas dazu. Jakob hatte drei Schwestern, von denen die eine als Kind an Kinderlähmung erkrankt war und

Weitere Kostenlose Bücher