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Der geheime Brief

Der geheime Brief

Titel: Der geheime Brief Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: M Ernestam
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deshalb nicht laufen konnte. Die Schwester las ungeheuer gern und war fröhlicher als alle anderen. Sie wurde aber nicht
zur Schule geschickt, denn sie würde ja doch »nie zu etwas taugen«. Da schien es besser, wenn sie nähen lernte.
    Jakob hatte gewagt, sich zu widersetzen. So lange er konnte, hatte er sie auf dem Rücken zur Schule getragen. Die anderen hatten ihn ausgelacht, aber der Lehrer reagierte freundlich, und so wurde Jakobs Schwester zur besten Schülerin. Das Gerede war verstummt, und Jakob hatte geschworen, ihr einen Rollstuhl zu verschaffen. Er arbeitete im Hafen von Göteborg, bis er das Geld zusammen hatte. Er hatte den Rollstuhl zu Hause abgeliefert und wollte jetzt zurück in den Hafen. Seine Schwester brauchte eine Schreibmaschine. Mit Nadel und Faden im schwachen Licht der Petroleumlampe zu sitzen, verlangte Zeit und Kraft. Sie musste mehr leisten als andere, um ebenso viel wert zu sein. Sie wollte Geschichten und Artikel schreiben, da sie, wie sie immer sagte, »ihrer Verantwortung nicht entkommen konnte.«
    »Merkt ihr bei euch etwas vom Krieg in Europa?«
    Jakob schüttelte den Kopf. Die Schüsse von Sarajewo, die ein Jahr zuvor den österreichischen Thronfolger und seine Gemahlin getötet hatten, waren bei uns ein Gesprächsthema, ebenso wie das darauf folgende Säbelrasseln. Aber unser tägliches Leben war bisher nicht davon beeinflusst worden, noch stand Essen auf dem Tisch, jedenfalls bei uns auf dem Land. Manche Bauern verdienten gut, indem sie Butter verkauften und selbst Margarine aßen.
    Jakob erzählte, dass die Mobilmachung in Europa in Göteborg ein Chaos verursacht hatte. Die Kirchturmglocken läuteten, die Menschen stürmten in die Läden und bunkerten Lebensmittel. Die Frauen standen bis auf die Straße hinaus Schlange, um Lebensmittel und Holz zu kaufen. Auch im Hafen ging es hektisch zu. Jakob hatte gehört, dass in der gesamten Schifffahrtsbranche die Sorge umging, der Krieg könne
die Geschäfte stören. Oder Piraten, die Morgenluft witterten.
    Auf der ganzen Fahrt nach Göteborg erzählte Jakob, was er von Seeleuten gehört hatte, die an- und abgemustert hatten. Bildreich beschrieb er fremde Städte, die Hölle der Arbeit als Heizer und das Glück, an Deck stehen zu können. Ich dachte an Herdfeuer und an unsere Felder. Dann an das Schiffsjungenkorps und an Anton. Ich hatte die fünf Kronen in sein Taschentuch gewickelt, ehe ich sie im Brustbeutel verstaute.
    Ich wollte es nicht einmal mir selbst eingestehen, aber ich dachte immer an ihn, seit er mich ohne ein Abschiedswort verlassen hatte. Jedesmal, wenn jemand versuchte, den Arm um mich zu legen, spürte ich Antons Hand im Rücken, und jedesmal, wenn mich ein bewundernder Blick traf, schloss ich die Augen und spürte seine Lippen auf meinen. Nicht, dass mich Männer überhaupt sonderlich interessiert hätten. Ich begriff nicht so recht, wozu sie gut sein sollten. Natürlich liebte ich meine Brüder. Aber die waren von Eltern aufgezogen, die sich für keine Arbeit zu gut dünkten und ihre Söhne wie ihre Tochter erzogen. Auch Vater war anders gewesen als die anderen Männer und ließ sich in meinen Augen nicht mit ihnen vergleichen. Andere Exemplare des männlichen Geschlechts, die mir begegnet waren, machten das Leben weder leichter noch lustiger, seit sie aus dem Kumpelstadium herausgewachsen waren.
    Anton war wiederum anders. Eigentlich hatte ich immer auf einen Brief von ihm gehofft, oder dass er winkend um die Wegbiegung käme. Ich schämte mich, an einen Kerl zu denken, der ja offenbar nichts von mir wissen wollte. Ich versuchte immer wieder zu verstehen, was er mir hatte sagen wollen. Das Einzige, was blieb, war eine Glut in mir.
    Die verschwundenen Silberleuchter wurden in Schweigen begraben. Es wurde kein Verdacht geäußert, auch nicht gegen
Anton. Bald nach dem Tod meines Vaters, als sich meine Verzweiflung verschlimmerte, fragte ich Mutter, was sie glaube. Sie antwortete, Leuchter seien das eine und das Licht in sich zu haben, etwas ganz anderes, und ich müsse doch die Letzte sei, die solche Anklagen vorbrächte. Vater habe niemals an Klatsch oder Verleumdungen geglaubt. Über die Leuchter habe er gesagt, die seien jetzt sicher »bei jemandem, der sie dringender braucht als wir«. Ob ich überhaupt noch die Tochter sei, für die Vater mich immer gehalten habe? Ich senkte den Kopf, rannte zum Pferd hinaus und hoffte auf Vergebung, doch das Tier blickte unergründlich drein.
    Auf dem Bahnhof in Göteborg nahm

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