Der geheime Brief
Jakob meine Tasche. Vorsichtig stiegen wir aus dem Wagen. Der Lärm und der Anblick, die mich dort empfingen, waren betäubend. Keuchende, rennende Menschen, Männer mit vollbepackten Karren, im Hintergrund hohe Wohnblocks, breite, gepflasterte Straßen, Pferde, die auf der Straße stampften und Äpfel fallen ließen. Ich musste mit offenem Mund gestarrt haben, denn Jakob fing an zu lachen.
»Man gewöhnt sich daran. Ich warte mit dir, bis du abgeholt wirst«, sagte er.
Ich möchte mich ausruhen, aber meine Erinnerungen haben sich verselbständigt. Vielleicht werde ich klingeln und um etwas zu trinken bitten. Ich wage immerhin, um Hilfe zu bitten. Damals, in jener Zeit, gab es Armenhäuser, wo die alten Leute niemals aufmuckten, aus Angst vor der Obrigkeit. Diese gebrechlichen Existenzen waren damals nicht viel wert, und von einer solidarischen Gesellschaft konnte man nur träumen. Fragt all die hungernden Witwen im Göteborg der Kriegsjahre. Oder Amanda Otto, die die Ausgestoßenen besuchte, wenn sie die Gütige geben wollte.
Aber ich war Amanda Otto noch nicht begegnet. Ich kannte
nur Jakob, der meine Wirklichkeit besser verstand als ich seine. Treu blieb er bei mir stehen und wartete, bis ein Junge in unserem Alter auf uns zugelaufen kam.
»Das ist doch wohl Rakel, was?«, fragte er im breiten lokalen Dialekt und streckte die Hand aus. Ich nickte. Der Junge blickte Jakob fragend an. Dann hob er meine Tasche vom Bahnsteig hoch.
»Otto konnte selbst nicht kommen, deshalb hat er mich geschickt. Aber wir sollen eine Droschke nehmen.«
Jakob lachte übers ganze Gesicht.
»Ich hab ja gesagt, der Schuhfabrikant ist ein Pfundskerl. Du wirst es gut haben, Rakel. Solange du mit ihm zu tun hast. Und dich um deine Angelegenheiten kümmerst.«
Der Laufbursche des Schuhfabrikanten setzte sich mit meiner Tasche in Bewegung. Ich reichte Jakob die Hand, und er drückte sie.
»Viel Glück, Rakel. Vielleicht sehen wir uns irgendwann wieder. Du bist ja in Vasastaden. Wer weiß, ob ich da mal vorbeikomme. Und danke für das Essen.«
»Danke, Jakob. Auch dir viel Glück. Mit der Schreibmaschine. «
Das Letzte schrie ich, da der Laufbursche sich schon ein ganzes Stück weit entfernt hatte. Ich hob meine Röcke und drängte mich durch die Menschenmenge. Jakob rief etwas. Gott schütze dich, kann es gewesen sein.
Die Fahrt durch Göteborg ist in einer der vielen Nischen meiner Erinnerung verschwunden. Ich hätte über Straßenbahnen und Automobile staunen müssen, mit ihren eingeschlossenen Pferdestärken. Hätte selig sein müssen, als uns eine Kutsche durch die Stadt trug. Vermutlich hörte ich zu, wie mein Begleiter über Werften, Häfen und Märkte und darüber redete, dass Schuhfabrikant Otto zu allen gleichermaßen freundlich
sei. Er interessiere sich leidenschaftlich für das Leder der Schuhe, die er mit solchem Erfolg verkaufte. Er und die Seinen glaubten, dass der deutsche Kaiser den Krieg in wenigen Wochen gewinnen werde.
Stattdessen erinnere ich mich an das Ende der Fahrt. Der Laufbursche erklärte, jetzt müssten wir den letzten Rest zu Fuß gehen. Es sei so steil, dass der Wagen unmöglich weiterfahren könne. Er wohnte selbst in Masthugget, zusammen mit einigen Seeleuten, die im Takt ihrer der Schiffe kamen und gingen. Ansonsten arbeiteten die meisten Männer entweder in einer der Werften am anderen Ufer des Göta älv oder als Schauer im Hafen. Falls sie nicht arbeitslos oder zu alt waren. Ich dachte, dass Jakob vielleicht in der Nähe ein Zimmer gemietet hatte. Es war schon dunkel, als wir ein Haus erreichten, das sich in einem ziemlich schlechten Zustand befand. Der Laufbursche öffnete die Tür und hielt sie für mich auf. Eine Ratte kam angerannt und verschwand in einer Behausung, die, wie ich später erfuhr, die Baracke mit den Plumpsklos war. Ihr Fell war räudig, und ich konnte ein Schaudern nicht unterdrücken, obwohl ich nicht zum ersten Mal eine Ratte gesehen hatte. Mein Begleiter versuchte, ihr einen Tritt zu verpassen, und stieg dann mehrere Treppen hoch. Ich folgte ihm, darauf bedacht, nicht den Gestank von Schweiß und Kohl einzuatmen.
Wir blieben vor einer Tür stehen, und er klopfte. Als keine Antwort kam, stieß er die Tür auf und ließ mich eintreten. Er erklärte, dass wir Glück hatten, da wir nur zu zweit in diesem Zimmer wohnen mussten. Oft gehe es sehr viel gedrängter zu.
Das Zimmer war klein, die Tapeten blätterten von der Wand ab. Vor dem schmutzigen Fenster standen ein Tisch und
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