Der geheime Brief
zwei abgenutzte Stühle in unterschiedlichen Farben. Auf dem Herd,
der einen großen metallenen Abzug bis zum Dach hatte, kochte ein Topf vor sich hin. Der Dampf schlängelte sich aufwärts und verstärkte die Feuchtigkeit. Die Wände waren bereits fleckig. Etwas Schwarzes kroch in den Abzug. Auf dem Tisch stand eine Petroleumlampe, in der die Flamme in dem verzweifelten Versuch brannte, den Raum zu beleuchten.
Auf dem Sofa saß ein Mädchen in meinem Alter. Herzförmiges Gesicht, kleiner runder Mund. Apfelwangen, bleiche Haut, eine Bluse, die über den Brüsten spannte, kleine Hände. Zwei dunkle Zöpfe fielen über ihren Rücken und landeten auf dem Sofapolster. Ein Muttermal in Form einer Blume prangte auf einer Wange. Eine viel zu liebliche Erscheinung für dieses Zimmer und seine Gerüche. Als sie auf mich zukam und mich umarmte, spürte ich ihre Wärme. Sie duftete wie Vaters getrocknete Äpfel und atmete ruhig, während ich im Hintergrund das überraschte Flüstern des Laufburschen hörte. Ihr seid euch so ähnlich. Wie Schwestern. Nur die Haare sind anders.
Nun öffnete meine Zwillingsschwester den Mund und wurde irdisch.
»Du bist in einem verteufelten Rattenloch gelandet, Rakel. Aber ich bin froh, dass du hier bist. Zusammen werden wir in diesem Elend schon Ordnung schaffen.«
Sie zog mich zum Herd und ließ mich in den Topf blicken.
Erbsensuppe, wässrig und fast ohne Speckstücke.
»Wenn wir gerecht teilen, kommen wir zurecht. Wenn wir den Nachbarn helfen, die mir heute mit dem Essen geholfen haben. Ich heiße übrigens Linnea. Zu zweit können wir nachts reden und die Wanzen verjagen.«
Wanzen. Die sind wie die Angst. Fast verschwunden, wenn es hell ist. Nein, nicht verschwunden. Versteckt in Boden, Wänden und Betten. Nachts kommen sie hervorgekrochen und saugen Blut aus der unschuldig Schlafenden, bis sie aufwacht,
schreit und sich am ganzen Körper kratzen muss, der von roten und eiternden Bissen bedeckt ist. Es ist unmöglich, vor ihnen zu fliehen, da sie in der Dunkelheit angreifen. Immer hungrig. Immer durstig.
Wanzen sind wie die Angst. Und vielleicht wie die Trauer.
Kapitel 6
2007
Niklas hatte sein Haus behutsam renoviert. Große Fenster, durch die man dem Wechsel der Jahreszeiten folgen konnte. Zum ersten Mal seit langem hatte sie wieder Lust zu fotografieren. Irgendwann.
Die Musik, die aus den Lautsprechern strömte, war seltsam, aber schön.
»Wer ist das?«
Niklas antwortete, während er auf sie zukam und ihr ein volles Glas reichte.
»Der Mann, der mich dazu gebracht hat, mit dem Spielen aufzuhören.«
»Wie meinst du das?«
Das Getränk schmeckte säuerlich und nach Lavendel. Mandarine?
»Mandarine«, bestätigte er, ohne dass sie gefragt hätte, und setzte sich neben sie. »Meine persönliche Mischung aus Mandarine und Lavendel. Ich glaubte mich zu erinnern, dass du Orangen magst, und dass du immer einen Topf mit Lavendel gekauft und hier auf die Treppe gestellt hast. Um den Sommer zu eröffnen.«
»Dass du das noch weißt!«
Niklas gab keine Antwort. Sie schaute sich noch einmal um und staunte darüber, wie das Meer vor den Fenstern mit der
Einrichtung harmonierte. Stühle aus hellem Holz, Niklas’ eigenes Design. Schöne Muscheln und Steine in den Regalen. Ein alter Schaukelstuhl.
»Wen hast du da noch mal aufgelegt?«
Niklas klopfte das Kissen hinter seinem Rücken zurecht und schlug die Beine übereinander. Sie vergaß zuweilen, wie groß er war. Einen Kopf größer als sie.
»Das habe ich nicht gesagt. Nur, dass dieser Mann mich dazu gebracht hat, mit Spielen aufzuhören. Ein ziemlich unbekannter Russe. Aber er spielt, als sei die Geige ein Teil seines Körpers. Du erinnerst dich doch daran, was ich gesagt habe. Nämlich, dass ich nie so gut wurde, wie ich werden wollte. Da konnte ich auch gleich aufhören.«
»Für dich gibt es nur alles oder nichts. Stimmt’s?«
Niklas deutete ein Lächeln an. Sie dachte an den schönen roten Mantel mit den bestickten Ärmeln, der ihr in der Diele aufgefallen war. Schweigend leerten sie ihre Gläser. Sie hatte schon lange nichts so Köstliches mehr getrunken.
»Es war nett von dir, dass du mir geholfen hast, den alten Müll wegzuschaffen. Da wird man doch gleich ein wenig froher. «
»Wenn man eine Therapie macht, um einen Trauerfall zu verarbeiten, scheint man das tun zu müssen. Etwas mitnehmen, was dem betreffenden Menschen gehört hat, und es symbolisch wegwerfen.«
»Woher weißt du das?«
»Das hat mir ein Freund
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