Der geheime Brief
erzählt.«
Sie wollte nicht fragen, was dieser Freund erlebt hatte, warum er eine Trauertherapie hatte machen müssen. Es konnte etwas viel Schlimmeres sein als das, was sie durchgemacht hatte.
Niklas drehte sein Glas und hielt es ins Licht.
»Trauer ist offenbar kein Gefühl an sich, sondern eine Mischung
von Gefühlen«, sagte er dann. »Eine Kombination aus Angst, Furcht, Wut, Schuld, Scham … und mit diesen Gefühlen muss man arbeiten, um weiterzukommen. Das gelingt nicht allen. Es gibt Menschen, die vor Trauer sterben.«
Er verstummte und beugte sich vor, um ihr in die Augen zu sehen.
»Verzeih mir.«
Es war das zweite Mal an diesem Tag, dass sie jemand wegen einer Bemerkung um Verzeihung bat. Auch Solveig hatte das getan. Solveig, die außerdem diese Bitte wiederholt hatte, als sie später zurückgerufen hatte, zum Bersten gefüllt mit Informationen, die Inga ihrerseits nun mit Niklas teilen wollte.
Aber zuerst das Thema Trauer.
»Du brauchst nicht um Entschuldigung zu bitten. Es ist besser, etwas zu sagen, als stumm zu sein. Es gibt Menschen, die auf die andere Straßenseite gehen, wenn sie mich sehen, um nicht mit mir reden zu müssen.«
Niklas schüttelte den Kopf, und Inga sprach weiter.
»Ich habe fast alles auf einmal weggeschafft. Habe dem Roten Kreuz Gegenstände und Kleider gebracht und viel an Freunde verschenkt, die bedürftige Bekannte hatten. Ich war stolz darauf, dass ich das geschafft hatte. Bis ich zu den Pullovern kam. Die rochen noch immer wie Mårten. In einem Halsausschnitt habe ich Haare gefunden. Als ob er den Pullover gerade erst ausgezogen und zusammengefaltet hätte, wie er das immer machte. Ziemlich ordentlich, aber doch nicht ganz so ordentlich wie ich. Die Ärmel waren ein wenig zerknittert. Darauf habe ich ihn immer aufmerksam gemacht. Als ob das wichtig wäre.«
Ihre Stimme klang schrill, voller Selbstvorwürfe. Der Geiger brachte in diesem Moment einen Ton zustande, der sich von den anderen losriss und allein durch den Raum wirbelte. Wortlos
nahm Niklas sie in die Arme, und sie ließ es zu, während sie stammelte, dass sie den Badezimmerschrank nicht mehr öffnete. Sie ertrug es nicht, dass ihr Deo und ihre Zahnbürste dort standen, wo früher Mårtens Rasierwasser gestanden hatte.
Niklas ließ sie los, als ihr Zittern sich gelegt hatte.
»Ich muss nur schnell nach dem Fleisch sehen«, sagte er und stand auf.
Sie sammelte sich, ehe sie ihm folgte und über den schön gedeckten Tisch und die bereits gefüllten Teller staunte.
»Du warst früher ein guter Kuchenbäcker, aber du scheinst deinen Ehrgeiz gesteigert zu haben.«
»Aus irgendeinem Grund bin ich immer nur mit Frauen zusammen, die nicht gern kochen. Das musste also ich übernehmen, und jetzt ist ein Hobby daraus geworden.«
Sie setzte sich und nippte am Wein, um nicht gleich antworten zu müssen. Niklas ahnte sicher, dass sie sich schon lange nicht mehr um ihre Ernährung gekümmert hatte. Deshalb ließ sie es sich schmecken, während sie über alte Freunde und längst vergangene Sommer sprachen. Erst beim Nachtisch kam sie zu dem Thema, über das sie schon seit ihrer Ankunft hatte reden wollen.
»Ich habe dir doch von dem Karton erzählt, den ich gefunden habe. Und von diesem Brief.«
»Ja?«
»Als wir aufgelegt hatten, habe ich Solveig angerufen und sie ausgefragt. Sie hat einen ziemlich guten Kontakt zur restlichen Verwandtschaft. Und jetzt hat sie zurückgerufen und allerlei spannende Dinge erzählt.«
»Was denn zum Beispiel?«
»Dass meine Großeltern mit mehreren Missionaren befreundet
waren. Solveig kann sich da an eine ganz besondere Freundin erinnern. Meine Großmutter hat sie offenbar Lea genannt. Vielleicht hat sie dabei an Rakel und Lea in der Bibel gedacht. Die Schwestern. Diese Lea war sehr jung, als sie losgezogen ist. Sie war offenbar in Afrika. Und in China. Solveig wusste, dass Leas Mann dort erschossen wurde.«
»Was sagst du da?« Niklas ließ sich im Sessel ein wenig zurücksinken. Ein Kragenzipfel hatte sich umgeschlagen. Sie verspürte den Impuls, ihn geradezubiegen.
»Ja, ist das nicht scheußlich? Solveig hat auch erzählt, dass Lea ihr einziges Kind in Afrika zur Welt gebracht hat. Einen Sohn. Sie reiste in die abgelegensten Dörfer und predigte. Nicht nur über Gott, sondern auch über Hygiene und Familienleben. Das muss damals einzigartig gewesen sein. Sie schien keinerlei Strapazen zu befürchten. Aber sie zog sich eine chronische Infektion zu und musste nach
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