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Der geheime Brief

Der geheime Brief

Titel: Der geheime Brief Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: M Ernestam
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Wort Moral kann dieses Frauenzimmer nicht einmal buchstabieren. Ihre Gören sehen ihrem Vater und Großvater so wenig ähnlich, dass alle, die Augen im Kopf haben, sehen müssten, dass da jemand
anderer die Finger im Marmeladentopf hatte und den dann ins falsche Fach gestellt hat. Der Herr im Haus liebt seine Enkelkinder so sehr, dass er nur noch schielt. Diese Witwe weiß außerdem, wie man den Leuten Honig ums Maul schmiert. Das nutzt sie aus, damit sie im Laden die neuesten Frühlingsstiefel an sich reißen kann. Aus dem weichsten Leder natürlich. Bei dem Regen hier in der Stadt.«
    Signe schnaubte. Dann erzählte sie von Ruben als dem Sorgenkind der Familie. Zwar sei er schön, aber ohne die Autorität seines Vaters, die nicht einmal der Suff ganz zerstören könne. Während der Fabrikant gern herzlich lachte, vor allem, wenn seine Frau nicht da war, saß Ruben meistens allein in seinem Zimmer, las oder dachte nach. Angeblich wollte er Pastor werden.
    »So viel zu philosophieren und über Gott nachzudenken kann einen schon wunderlich werden lassen«, konstatierte Signe und streckte die Beine aus. Die waren vom Knie bis zum Fuß gleich dick, was einen gewissen Neid auf Tors Witwe erklärte. Signe würde niemals ihre Füße in ein Paar eleganter Schuhe stecken können.
    »Jedenfalls wohnt er zu Hause, und von Damenbesuchen ist nichts bekannt«, sagte sie. Dann senkte sie die Stimme und rückte ein wenig näher an uns heran, obwohl wir allein waren und niemand uns hören konnte. »Angeblich kann er nicht.«
    »Wie meinst du das?«, fragte Lea und stellte energisch die Tasse auf den Tisch.
    »Dass an seinem Werkzeug etwas nicht stimmt. Am Piephans. Das sagt Edvard. Unser Mann für alles. Fahrer und Diener für den Hausherrn. Und auch Beichtvater, meine Güte. Was ihm gesagt wird, bleibt zwischen den Wänden des Hauses.«
    Aber wird in der Küche besprochen, dachte ich, und das wurde bestätigt. Edvard seligen Angedenkens mit geschleckter
Frisur und affektierten Manieren. Seinem Herrn getreu, und ebenso getreu den anderen Untergebenen. Deren Leben wäre sehr viel schwerer gewesen, wenn sie nicht durch Edvard die Kehrseite der Ottos hätten sehen können. Der Dienst fiel leichter, wenn man in der Küche über Tors Probleme mit der Witwe oder über Fridolfs Klagen über verkommene Zähne gelacht hatte. Oder sich über Rubens herrschaftlichen Schwanz ausgelassen hatte.
    »Du meinst, er kriegt ihn sozusagen nicht aus der Pelle?« Leas Frage kam überraschend. Sie kehrte mir ihre Wange zu. Ihr Muttermal sah aus wie eine aufgeblühte Margerite im Frühling.
    »Ich hätte ja nicht gedacht, dass du so bewandert bist!« Signe schüttelte den Kopf, aber Lea ließ sich von dieser Bemerkung nicht beeindrucken.
    »Es gibt jede Menge Männer, die ihn nicht rauskriegen, und die glauben, das sei ein Problem fürs ganze Leben. Aber soviel ich weiß, braucht man da nur einen kleinen Schnitt. Mein Vater ist Arzt. Jedenfalls war er es, bis ihm die Zulassung genommen wurde. Daher weiß ich, dass das nicht schwieriger ist, als einen Kleidersaum aufzutrennen.«
    Nie mehr habe ich Signe dermaßen glotzen sehen. Der verdutzte Blick, den sie auf Lea richtete, war unbezahlbar. Sie fing an zu lachen.
    »Ich muss schon sagen … dann geh doch rauf und hilf Herrn Ruben. Mit einem kleinen Schnitt«, prustete sie heraus. Als sie sich beruhigt hatte, sah man Schweißflecken unter ihren Armen und auf der Brust.
    »Ja, großer Gott, so hat, man sich ja lange nicht mehr amüsiert«, sagte sie, schaute auf die Uhr und sprang auf. Rasch nahm sie Butter, Mehl, Fleisch und Gemüse hervor und beschrieb uns unsere Aufgaben. Um sechs Uhr morgens sollten
wir zur Stelle sein und einen Kaffee trinken, wenn die Zeit reichte. Dann begann der Arbeitstag. Tabletts mussten herumgetragen werden, da die Familienmitglieder lieber im Bett frühstückten. Das Frühstück des Direktors musste um sieben oben sein, das der Gnädigen und Rubens etwas später. Ja, zu Ruben und dem Direktor musste natürlich Edvard ins Zimmer gehen, aber es musste alles bereitgestellt werden. Die Gnädige wollte jeden Tag eine Rose auf ihrem Tablett, und Gott erbarme sich aller, wenn diese Rose nicht frisch war.
    Während des Tages mussten wir spülen, die Betten beziehen, staubwischen und aufräumen. Danach einkaufen. Wir konnten damit rechnen, dass wir in die Geschäfte laufen und für den Direktor Besorgungen übernehmen mussten. Dann kam das Mittagessen, wenn die Familie nicht auswärts

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