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Der geheime Brief

Der geheime Brief

Titel: Der geheime Brief Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: M Ernestam
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Menschen auf eine Weise selig machen wie nichts anderes. Das ist meine feste Überzeugung. Darf ich deine sehen?«
    Ich streckte einen Fuß aus und schämte mich der Schnürstiefel. Sie waren nicht mehr geputzt worden, seit Hannes sie für meine Reise nach Göteborg zurechtgemacht hatte. Carl Otto beugte sich und betastete mit behutsamen Händen das Leder. Wie aus Versehen berührte er meine Wade mit dem Zeigefinger und kehrte dann zu den Stiefeln zurück. Hob meinen Fuß an, untersuchte die Sohlen und seufzte.
    »Kein schlechtes Handwerk«, murmelte er. »Aber bei jedem Wetter getragen, wie ich sehe, und nicht richtig gepflegt. Überlass sie erst einmal mir, dann bringen wir sie schon wieder in Schuss. Niemand soll behaupten, Carl Ottos Dienstboten hätten schlechtes Schuhwerk.«
    »Ich habe keine anderen.«
    Es kostete mich Überwindung, das zu sagen, und Carl Otto hatte es bemerkt. Er richtete sich auf.
    »Es ist keine Schande, nur ein Paar Schuhe zu besitzen, solange es die richtigen sind«, erwiderte er. »Bis auf Weiteres solltest du sie abends mit Papier ausstopfen, um ihnen die Feuchtigkeit zu nehmen. Stell sie neben den Herd, damit das Leder
trocknen kann. Ein wenig Papier und Schuhcreme kannst du heute Abend mitnehmen, und morgen sehen wir dann wieder nach.«
    Er legte den Kopf in den Nacken und lachte, und ich lächelte und hatte das Gefühl, dass das erlaubt sei. Das sah er und freute sich.
    »Du bist so hell, wie Linnea dunkel ist. Aber ich habe noch nie zwei Mädchen gesehen, die sich so ähnlich sahen, ohne Schwestern zu sein. Ich hoffe, ihr werdet euch hier wohlfühlen. Das hoffe ich wirklich.«
    Dann ging er, und ich wusste, dass er wusste, dass die leitenden Hände nicht immer nur im Himmel waren. Am selben Tag hatte Lea eine ähnliche Begegnung. Nur hatte Carl Otto Lea vorsichtig um die Taille gefasst, worauf sie empört herumgewirbelt war und ihn fast mit dem Staubwedel geschlagen hätte. Sie war wütend geworden. Aber er fasste sich und sprach ihr seine Bewunderung für ihren Vater, den Arzt, aus, der seine Zulassung verlor, weil er unglücklichen Frauen geholfen hatte, sich von dem zu befreien, was die Natur ihnen zu großzügig geschenkt hatte. Carl Otto fragte sie nach ihrer Meinung. Lea schaute ihm in die Augen und sagte, sie sei stolz auf ihren Vater. Und auch auf ihre Mutter, denn die hatte nachher geholfen, alles sauber zu machen.
    »Das Leben ist nicht gerecht, da die einen nehmen und die anderen geben und es selten glatt aufgeht«, sagte sie, mit dem Schlimmsten rechnend. Aber Carl Otto nickte und antwortete, sie habe ja nur zu recht, und das Schönste, was es gebe, seien Kinder, die ihre Eltern ehrten. Und das mit ihrem Vater sei eine »unangenehme Geschichte«. Danach hatte er auch ihre Stiefel untersucht. Er hatte ihr denselben Rat gegeben wie mir, und an diesem Abend gingen wir mit Papier und einem Topf Schuhcreme nach Hause. Lea knurrte und hätte lieber Butter
fürs Brot gehabt. Sie roch an der Creme und versuchte, deren Bestandteile zu erraten.
    Amanda Otto behielt uns die ganze Zeit im Auge, fand aber nicht viel zu kritisieren. Das Rascheln ihrer Röcke kündigte ihr Kommen an. Wir hatten ihre Stimme im Rücken, die uns auftrug, hier mehr zu putzen oder uns zu bücken und dort ganz hinten zu wischen. Die schweren Portieren zogen jeglichen Staub an, und es war eine Höllenarbeit, sie sauber zu halten, während sie zugleich kein Licht hereinließen. Das Klavier schaute uns an. Niemand berührte die Tasten, außer, wenn ich sie abwischte. Mehr wagte ich nicht.
    Abends lagen Lea und ich auf der Ausklappbank und legten die Arme umeinander, wenn es besonders schlimm zog. Es ging auf Weihnachten zu, aber keine von uns würde nach Hause fahren. Ottos hatten an den Feiertagen mehrmals Gäste, und es kam nicht in Frage, dass die Zofen nach Hause fuhren. Ich schrieb an Mutter, meine Worte sorgsam wägend. Sie las sicher zwischen den Zeilen, wünschte mir aber Gottes Frieden und erklärte, dass es ihnen gut ging, dass eine Kuh gekalbt hatte und der Gebetssaal gut besucht war. Es fehlte zwar an Petroleum, und Kerzen waren rationiert worden, weshalb sie im Dunkeln predigen mussten. Aber der Hof hatte für morgens und abends zusätzliche Kerzen für die Ställe bekommen. Schick kein Weihnachtsgeschenk, bat sie. Auf diese Weise zeigte Mutter ihre Fürsorge.
    Vielleicht verstand Amanda Otto, dass unser Zusammenhalt unser Leben erträglicher machte, und vielleicht glaubte sie, teilen zu müssen,

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