Der geheime Brief
Otto am meisten leidtat, war vermutlich sie selbst.
Wenn ich an diese ersten Wochen und Monate denke, dann erinnere ich mich vor allem an die Geräusche. An Leas leichte Atemzüge am Morgen, und wie sie im Schlaf jammerte. An
das Pochen, wenn die Wanzen erschlagen wurden. An Geschrei und Lärm, wenn betrunkene Schauermänner die Treppe hochpolterten. An munteres Lachen, wenn sie wieder verschwanden, frisch verliebt in die Frauen, die sie müde hatten zum Zug kommen lassen, ehe die Männer in der Hoffnung auf Arbeit wieder zum Kai gingen, den Lohn auf dem Küchentisch hinterlassend. An das Ächzen in den Wänden, das Knirschen unter unseren Füßen, als der erste Schnee fiel. An Hufe, die über Pflastersteine klapperten, an das Scheppern der Straßenbahnen und knallende Türen, wenn die Läden öffneten. An Signes Arbeit mit dem Quirl und an ihre Verwünschungen, die sie in die Soßen mischte und die diese dick werden ließen, an das Klirren von Porzellan auf dem Tisch, an Amanda Ottos Stimme, wenn sie ihre knappen Befehle erteilte.
Ich höre schrille Schreie und liebevolles Gurren, stampfende Schritte und das Klirren, wenn der Lampenputzer am Ring zieht und die Laternen aufleuchten lässt, ich höre das Klappern, wenn die Nachtmänner die Abtritte leeren, und die eiligen Schritte der Polizei, wenn Jungen mit Steinen schmeißen. Wenn ich genau genug hinhöre, dann vernehme ich leises Weinen um einen Verstorbenen, oder ich höre einen Bettler an die Tür klopfen und um ein Stück Brot bitten. Aber ich höre niemals die Stille auf einer Lichtung, und ich glaube nicht, dass ich in diesen Monaten auch nur eine einzige Kohlmeise gesehen habe.
In der ersten Zeit hatten wir solche Angst, zu spät zu kommen, dass wir kaum zu schlafen wagten. In der Novemberdunkelheit standen wir auf und kochten fröstelnd unseren Ersatzkaffee, den wir auf Pump gekauft hatten. Wir versprachen, ihn mit unserem ersten Lohn zu bezahlen. Wir buken Brot und aßen es voller Andacht, stippten es, bis es hart wurde, und kratzten notfalls den Schimmel ab. Dann gingen wir in der
Morgendämmerung zu den Ottos, wärmten uns bei Signe in der Küche auf und begrüßten Edvard. Er behandelte uns respektvoll und servierte zu einem seltenen zweiten Kaffee den neuesten Klatsch über die Herrschaft.
Mit dem Frühstückstablett zu Amanda Otto zu gehen und den bitteren Geruch einer einsamen Nacht wahrzunehmen bedeutete immer einen unfreundlichen Kommentar oder eine zusätzliche Aufgabe. Es war eine Erleichterung, ihr Zimmer verlassen zu dürfen und zum Wischlappen zu greifen und das abzustauben, zu wischen und zu wienern, das bereits abgestaubt, gewischt und gewienert war. Es war bei einer solchen Gelegenheit, als ich einen Blumentopf putzte und an unseren Hof dachte, dass mir zum ersten Mal der Schuhfabrikant begegnete. Carl Otto hatte mich offenbar schon eine ganze Weile beobachtet, ehe er sich bemerkbar machte.
»Willkommen hier bei uns, Fräulein Rakel. Ich sehe, sie ist sorgfältig und fleißig, und das wissen wir zu schätzen. Ich hoffe, Sie fühlen sich bei uns wohl.«
Ich drehte mich um, wischte mir das Lächeln von den Lippen und den Staub von der Hand, dann nahm ich seine und knickste. Er hielt sie zu lange fest und durchbohrte mich mit Blicken.
»Ich habe von deinem Vater gehört«, sagte er dann. »Ein kämpferischer Mann. Hat sich überall für seine Ideen eingesetzt. Über das Menschenrecht auf freie Entscheidung in Glaube und Politik. Fast wäre er nach Amerika gegangen, aber dann hat er wohl deine Mutter kennengelernt und sich für die Mission in Närke entschieden. Aber er hat viele seiner Vorsätze umgesetzt, und das sichert ihm meine Achtung. Du hast wohl seine Freimütigkeit geerbt.«
Er ließ meine Hand los. Ich machte wieder einen Knicks und dachte, er sei ein guter Mann, der in die Irre geraten war. Er war stattlich, hatte blonde Haare und einen ebensolchen Schnurrbart.
Er hätte durchaus als gutaussehend gelten können, wenn seine Hautfarbe nicht eine gewisse Vorliebe für starke Getränke verraten hätte. Aber seine Augen waren auf eine Weise blau, die mich an Vater erinnern könnte, wenn meine Sehnsucht nach daheim zu groß würde. Sein Rock saß gut, das Hemd war blendend weiß, die Schuhe blank geputzt. Es waren die elegantesten Herrenschuhe, die ich je gesehen hatte. Er zeigte darauf.
»Lackchevreau. Chromgegerbtes Ziegenleder. Manche machen mit ihren Ideen ihre Mitmenschen glücklich. Schuhe, liebe Rakel, können einen
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