Der geheime Brief
könnte.«
»Möchtest du wissen, wie Großmutter aussah?«
»Ja, gern.«
Sara Moréus verschwand im Wohnzimmer. Inga erschrak, als sie sah, dass es schon auf neun Uhr zuging. Am Morgen war sie noch auf Marstrand gewesen. Jetzt saß sie im Haus eines unbekannten Menschen in Malmö. Das passte gar nicht zur sonst so beherrschten Inga Rasmundsen.
Das Foto riss sie aus ihren Gedanken. Die Überraschung stellte sich sofort ein. Die Frau auf dem Bild, die ein schwarzes Kleid trug und sich an eine Hauswand lehnte, war den Fotos ihrer eigenen Großmutter so ähnlich, dass sie mehrmals hinschauen musste, um sich davon zu überzeugen, dass sie hier nicht Rakel sah. Die Haare waren dunkler. Aber die Augen, der Mund, die Haltung, die runden Wangen … es war fast unheimlich. Dann drückte ihr Sara noch ein Foto in die Hand.
»Das ist mein Vater. Da war er ungefähr fünfzehn.«
Inga sah in Augen, die unmöglich Sara Moréus’ Vater gehören konnten. Das Bild zeigte einen Mann, den Inga sehr gut kannte. Der sie schwimmen gelehrt hatte. Der gespielt, gesungen, im Garten gejätet und gelacht hatte. Einen Mann, den sie ihr Leben lang bewundert und geliebt hatte.
»Wann wurde dein Vater geboren?«
»Im März 1917. Er hieß Stig.«
Im selben Monat und Jahr wie Onkel Ivar. Wie der Onkel Ivar, der sie jetzt vom Foto her anzulachen schien.
Kapitel 8
1959
Heute habe ich einen Spaziergang gemacht, obwohl ich das eigentlich gar nicht darf. Meine Beine tragen mich kaum. Niemand möchte die Wege um das Krankenhaus absuchen und ein hilfloses Bündel finden, das dann wieder zusammengeflickt werden muss. Die Ärzte meinen, es genüge, mein zu Blut reinigen. Aber ich musste einfach frische Luft atmen und mir einbilden, sie enthalte Salz. Ich wollte so gern etwas Grünes sehen, einen Baum oder einige Blumen. Also stützte ich mich auf meinen Stock und öffnete die Tür, schlich hinaus und fand eine Bank unter einem Apfelbaum. Die Früchte glänzten reif, und ich hätte alles gegeben, um sie pflücken zu können. Aber wie der Fuchs in der Fabel musste ich mich mit Seufzen und Träumen begnügen.
Als ich dort saß, hörte ich jemanden rufen, und dann kam er, Johannes, mein Kleiner. Wir lächelten uns an. Ich dachte, er versteht mich, und das war seltsam. Er setzte sich neben mich, nahm meine Hand und erzählte, die Frau würde bald kommen. Ich nahm an, sie besuchte jemanden, der bekennen wollte.
Johannes sprach von seinem Papa, und ich dachte, dass Gefühle uns zu leicht aus den Händen gleiten. Das Leben spielt uns Streiche. Es ist wie ein Tauziehen, die Gefühle streben in die eine Richtung und wir selbst in eine andere, und am Ende lernen wir, dass es besser ist, möglichst wenig zu empfinden.
Dass es in Ordnung ist, sich für Gefühle zu entscheiden, so, wie wir uns für einen Apfel entscheiden. Die reifen zu nehmen und nicht zu lange zu warten, sonst fallen sie zu Boden und werden von den Vögeln verzehrt.
Damals bin ich nach Göteborg gegangen, um für meine Lieben und mich selbst ein besseres Leben zu erlangen. Ich glaubte an die Freiheit, aber ich lernte, dass Hunger und harte Arbeit diesem Wort einen Misston verleihen. Die Freiheit zu verhungern ist nichts, wofür man kämpfen könnte. Wofür sie vor Verdun kämpften, das vergaßen die Jungen ziemlich schnell, als das Gefühl aus ihren Füßen verschwand und die Kameraden neben ihnen sich in Asche verwandelten. Zu Hause hungerten wir, während Kugellagerfabrik und Werft in Hisinge durch den Krieg reich wurden. Die Auftragsbücher füllten sich in dem Tempo, in dem die Schiffe torpediert wurden.
Ohne Lea hätte ich nicht überlebt. Zusammen konnten wir in einer elenden Kammer mit Hunderten von Wanzen hausen. Wir lernten, mit einer grausamen Frau als Arbeitgeberin fertig zu werden, die ihren versoffenen Gatten hinterging und es genoss, uns in die Mangel zu nehmen. Das war die Strafe für unsere Jugend und unsere schönen Zöpfe. Oder die einzige Möglichkeit für sie, Glück zu empfinden. Amanda Otto war der Beweis dafür, dass es solche Menschen gibt. Diese Lehre habe ich mein Leben lang bewahrt.
Nicht, dass es uns schlechter gegangen wäre als anderen. In Masthugget wimmelte es nur so von erbärmlichen Existenzen. Arme Schauerleute und Seeleute mit verhärmten Frauen und hungernden Kindern. Zehnköpfige Familien in Wohnungen, die nicht größer waren als unsere. Und doch besaßen sie die Güte, dafür zu sorgen, dass wir überlebten. Für einen Schluck Kaffee hatten sie
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