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Der geheime Brief

Der geheime Brief

Titel: Der geheime Brief Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: M Ernestam
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speiste, und später das Abendessen. Wir mussten in der Küche beim Backen und anderem aushelfen. Außerdem die Schlafzimmer für die Nacht zurechtmachen. Wenn die Herrschaft Gäste erwartete, war noch mehr zu tun. Manchmal mussten wir Kinder hüten und dafür sorgen, dass die Enkelkinder der Herrschaft nicht zu sehr störten, wenn sie hier waren. Und wir mussten Amanda Otto bei ihren Besuchen im Armenhaus begleiten.
    Als Signe das alles erzählt hatte, schwieg sie eine Weile.
    »Noch zwei Dinge. Das eine ist, dass Amanda Otto die Hausmädchen nie gut behandelt hat. Es kann an ihrem Geiz liegen, weil sie im Moment mehr für Lebensmittel bezahlen muss. Wenn ihr mich fragt, dann liegt es aber daran, dass sie neidisch ist, und das bleibt nicht ohne Folgen. Denn die Mägde sind nicht nur gegangen, weil sie ausgeschimpft wurden, sondern weil sie der Herr des Hauses zu oft in Brust und Hintern gekniffen hat. Es spielt keine Rolle, wie fest entschlossen eine Frau ist, ihren Rock nicht zu heben. Wenn Krieg und Not kommen und der Hunger auf der Lauer liegt, kann noch die Beste schwach
werden. Das Mädchen, das wir zuletzt hier hatten, hat so lange widerstanden, wie sie konnte. Doch es kam, wie es kommen musste, und sie wurde mit einem Kind im Bauch nach Hause geschickt, aber auch mit Geld in der Tasche, damit sie und das Kleine eine Weile zurechtkommen. Herr Otto ist großzügig, aber das bedeutet nicht, dass ich sein Benehmen billige, und ihr habt alles Recht, euch zu wehren. Jetzt wisst ihr Bescheid.«
    »Das ist wohl überall gleich«, sagte Lea darauf, und als ich sie anschaute, sah ich, dass sie rote Streifen am Hals hatte. Ich wollte etwas sagen, fand aber nicht die rechten Worte, und für einen schmerzlichen Moment dachte ich an den Kuss im Gebetssaal. Dann hörten wir ein Klingeln. Unsere Gnadenfrist war abgelaufen. Signe wischte sich die Hände ab und zeigte auf die Treppe. Oben im Wohnzimmer wartete Amanda Otto.
    Ein Fischgesicht. Breite Wangenknochen und ein starres Lächeln, wie das eines Fisches mit dem Haken im Maul, im Augenblick des Todes. Glubschaugen und stramm hochgesteckte Haare. Magere Hände und magere Brust, Knochen an Knochen ohne eine Andeutung von Rundungen. Sie trug ein Seidenkleid und sprach mit nasaler, eintöniger Stimme. Sie streckte die Hand aus. Wir nahmen sie und knicksten. Sogleich schien uns die Gnädige Widerwillen entgegenzubringen und sich zu überlegen, wie sie uns das Leben vergällen könnte.
    »Das ist Rakel, und das ist Linnea«, sagte sie. Mein Name war niemals so lieblos ausgesprochen worden. Amanda Otto berührte kurz Leas Wange.
    »Deine Mutter hat nichts über dieses Muttermal geschrieben. Dann musst du wohl unten bleiben, wenn Gäste kommen, denn oben kannst du nicht servieren. Aber ich habe deiner Mutter versprochen, dir aus dem Unglück zu helfen, außerdem herrscht Krieg. Niemand hält sich mit Banalitäten auf, wenn es wichtigere Dinge zu erledigen gibt.«

    Sie erwartete keine Antwort und bekam auch keine. Ich ahnte, dass Lea zurückzuckte, und versuchte, meine Abscheu zu unterdrücken. Ich hatte meine Eltern niemals verächtlich über irgendwelche Gebrechen sprechen hören. Leas Muttermal war nicht größer als ein Daumennagel. Amanda Otto führte uns nun durch das Haus und erklärte uns die Funktion der verschiedenen Zimmer und unsere Aufgaben. Wir folgten ihr, ohne einander anzusehen, um unseren Widerwillen für den Abend aufzuheben. Am Ende des Rundgangs wussten wir, dass es hier wirklich Arbeit genug gab.
    Amanda Otto erzählte von den Schwierigkeiten, Bedienstete zu finden, und davon, wie sie den Armen mit Essenspaketen und Kleidung half. Natürlich engagierte man sich für die Landesverteidigung, in der Meinung, Schweden müsse an die Seite des deutschen Kaisers treten und zeigen, dass man sich auf die Seite Finnlands und gegen das slawische Russland stellte. Aber darüber brauchten wir uns keine Gedanken zu machen, solange wir unsere Arbeit erwartungsgemäß erledigten. Signe habe wohl schon einiges erzählt, und den Rest habe sie jetzt erklärt. Ansonsten müssten die Mädchen begreifen können, was zu tun sei, auch wenn sie vom Land kämen und ohne städtische Kultur aufgewachsen seien.
    Als sie das sagte, tat sie mir plötzlich leid. Ich begriff, dass Amanda Otto durchaus der unglücklichste Mensch sein könnte, der jemals durch feine Salons gewandelt war. Denn sie war erfüllt von Vorstellungen darüber, was sein durfte und was nicht. Die Person, der Amanda

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