Der geheime Brief
einem Automobil. Cafés und Bierstuben. Straßenbahnen. Ein Mann, der über die Straße torkelte, ein anderer, der ihn stützte. So früh waren keine feinen Leute unterwegs. Es war noch dunkel und eiskalt.
Ich fror an den Füßen. Meine Schnürstiefel waren schon mehrmals geflickt worden, konnten der Feuchtigkeit aber nicht richtig standhalten. Es kam mir vor wie eine Ewigkeit, bis wir das Haus erreichten, ein prachtvolles, reich verziertes Gebäude. Der Junge öffnete eine schwere Haustür, und wir stiegen zwei Treppen hoch. Dann klingelten wir.
Die Tür wurde geöffnet, und wir standen vor einer älteren Frau, die sich als die Köchin entpuppte und sich als Signe vorstellte. Sie ließ sich hier oben nur selten blicken, wie ich später erfuhr, aber im Moment fehlten im Haus ja die Dienstmägde, die wir werden sollten. Signe, mit Dutt und Schürze vor dem Bauch, musterte uns.
»Jessasmaria, die Mädels werden ja auch jedes Jahr magerer. Aber ihr kommt ja vom Land, und da sind die Leute das Zupacken
gewöhnt«, sagte sie und wandte sich an den Laufburschen. »Otto sagt, du sollst in den Laden gehen. Da muss etwas geholt und ausgetragen werden.«
Der Junge zögerte, aber Signe scheuchte ihn weg. Er verschwand, nachdem er uns eilig alles Gute gewünscht hatte. Seine Augen hafteten sehnsüchtig an Lea und mir.
Signe sagte, wir sollten uns die Schuhe abwischen. Wie schon der Junge, stellte sie fest, dass wir uns ähnelten wie ein Ei dem anderen. Dann ging sie in die Wohnung und wir hinterher. Unser Eindruck war düster. Strenge Möbel, schwere Portieren vor den Fenstern, steifes Leinen auf dem Tisch. Blumen auf hohen Piedestalen, dunkle Teppiche. Das einzige Licht stammte von einer Lampe in der Ecke, immerhin elektrisch. Auf einem Tisch stand ein seltsames schwarzes Gerät.
»Das Telefon«, sagte Signe und schon klingelte es. Sie zögerte, ging dann aber hin, nahm den Hörer ab und schrie: »Hallo allesamt! Hier ist niemand zu Hause und ich kann nicht ans Telefon kommen.« Dann knallte sie den Hörer auf die Gabel, und ich entdeckte das Klavier, genau wie zu Hause. Hier gab es also immerhin Musik.
»So viele Bücher«, flüsterte Lea und ging zum Regal. Kaum hatte sie ein Buch herausgezogen, war Signe bereits zur Stelle und schob es wieder zurück.
»Wir gehen in die Küche, da kriegt ihr einen Schluck Kaffee, ehe die Ottosche nach Hause kommt. Ich soll euch ein bisschen erklären, wie ihr zu arbeiten habt. Den Rest wird sie euch noch früh genug klarmachen. Aber besser, ihr merkt euch gleich, dass hier keine Dinge angefasst werden, die nicht angefasst werden dürfen.«
Die eine Treppe tiefer liegende Küche entpuppte sich als gemütlich. Der Herd war groß, die Speisekammer geräumig, und das Kochgeschirr an der Wand zeugte von Wohlstand und
Wärme, die in den oberen Stockwerken fehlten. Signe setzte den Kessel auf, und bald waren drei Tassen Kaffee fertig. Vor sich hinmurmelnd kam sie mit einem Stück Kuchen aus der Speisekammer zurück
»Dafür wird mir sicher kreuz und quer die Haut abgezogen«, seufzte sie. »Die Ottosche ist geizig wie der Teufel. Aber wenn wir bedenken, dass es hier so lange keine Haustöchter mehr gab, begnügt sie sich vielleicht mit einer Zurechtweisung. Sie ist ja, Gott schütze uns, gerade im Armenhaus, und da zetert sie meistens genug herum, so dass bis zum Mittagessen Ruhe ist.«
Danach erfuhren wir, dass unsere Herrschaft Carl und Amanda Otto hieß. Carl Otto war ein freundlicher Mann, der leider zu oft zu tief ins Glas schaute, was seine Frau offenbar nicht billigen konnte. Der Schuhfabrikant war ein echter Geschäftsmann, der gute Qualität lieferte und Kunden und Lieferanten redlich behandelte. Aber in seinen eigenen vier Wänden hatte er nicht viel zu sagen. Signe verriet, dass hinter einigen Büchern im Regal Flaschen standen und dass er dieses Geheimnis mit seinem Gesinde teilte und dafür gern ein wenig mehr bezahlte. Amanda Otto behauptete zwar, belesen zu sein, rührte die Bücher aber nicht an.
Während wir den heißen Kaffee genossen, berichtete Signe weiter über die Familie. Carl und Amanda Otto hatten drei Söhne namens Fridolf, Tor und Ruben. Fridolf hatte eine eigene Zahnarztpraxis, Tor war Ingenieur. Während Fridolf sich eine herzensgute Frau gesucht und sehr schnell eine Familie gegründet hatte, war Tor einer furchtbaren Witwe in die Hände gefallen, die ihm, so Signe, Kuckuckseier ins Nest gelegt hatte.
»Das geht natürlich niemanden etwas an. Aber das
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