Der geheime Brief
Restaurant handelte. Sie musste ablehnen.
»Danke für die Mitfahrgelegenheit. Aber jetzt …«
»Ich habe gesagt, dass wir uns um halb sieben im Restaurant mit Anita treffen. Das ist in einer Stunde. Lass uns mit dem Auto fahren, das steht hier in der Nähe. Und dann können wir in der Bar etwas trinken, während wir warten.«
Sie schüttelte den Kopf.
»Es ist wirklich nett von dir, mich zu fragen. Aber ich will euch nicht stören. Ihr habt euch doch eine Weile nicht mehr gesehen, wenn ich das richtig verstanden habe.«
»Anita freut sich, wenn du mit uns isst. Und was willst du denn sonst machen? Du fährst doch wohl mit uns nach Hause? «
Mit uns. Noch schlimmer. Wie ein Blinddarm, ein Wurmfortsatz. Jemand, den man »mitnimmt«, weil es »so nett« ist. Sie hatte sich auch, als Mårten noch lebte, niemals aufdrängen wollen. Jetzt war sie so weit. Eine alleinstehende Frau mittleren Alters, derer sich Paare und Verwandte »erbarmten«, weil sie ihnen leidtat.
»Niklas, ich will nicht. Vielleicht fahre ich in die Bibliothek. Ihr könnt mich da abholen.«
»Die Bibliothek ist geschlossen«, sagte er. »Wenn du nicht mitgehst, musst du selbst sehen, wie du nach Hause kommst.«
Sie schaute auf ihre nassen Stiefel hinunter. Mit dem Bus nach Marstrand? Spaziergang durch den Matsch? Ihr blieb keine Wahl. Eine scheußliche Erkenntnis.
Eine Stunde später saß sie Niklas und Anita gegenüber an einem gemütlichen Restauranttisch. Sie sah Anitas leichte Sommersprossen,
ihre mit einer Spange geschlossene rosa Tunika und die dezent lackierten Fingernägel. Sah eine Frau, die sie freundlich begrüßt hatte, um dann den Arm um Niklas zu legen und ihn auf die Wange zu küssen. Nicht demonstrativ, nur entschieden. Sie hängte Mantel und Strickjacke an der Garderobe auf und strich ihre Bluse glatt. Auf der Damentoilette versuchte sie ihr Bestes, um ihr Aussehen wiederherzustellen und die Schrammen an ihren Beinen zu säubern.
Nachdem sie eine Weile mit Anita geplaudert hatte, konnte sie Niklas zustimmen, der sie als munter, freundlich und einfühlsam beschrieben hatte. Ihr Beileid zu Mårtens Tod klang ehrlich und unsentimental. Anita wusste von Ingas Situation, und warum sie sich auf Marstrand aufhielt. Bisweilen werde eben alles zu viel, stellte sie fest. Das Essen wurde serviert. Anita verzehrte ihren gebratenen Fisch so elegant, dass das sonst übliche Chaos aus Haut und Gräten auf einem ordentlichen Häuflein lag.
Inga war froh, dass sie sich für das Kalbsfilet entschieden hatte. Anita bat um weiteren Wein und legte ihr Besteck beiseite.
»Meine Mutter ist auch früh allein geblieben. Ich war erst sechs, als mein Vater uns verlassen hat. Eine Leidenschaft, die ihn dazu brachte, alles stehen und liegen zu lassen und nach Florenz zu ziehen. Meine Mutter und ich saßen in der Küche und tranken heißen Kakao, als er anrief. Und seither habe ich heißen Kakao nie wieder vertragen.«
Die Erinnerung an das Gespräch im Wohnzimmer. Die Erinnerung an die Stimme des Geistlichen, an ihren Körper, der das Kommando über die Gedanken ergriff, die Erinnerung an verschwindende Farben und den wogenden Fußboden.
»Es muss schrecklich für sie gewesen sein. Dass du dabei saßt, meine ich. Und alles gehört hast.«
»Das war es bestimmt. Aber meine Mutter sagt immer, dass
es auch eine Rettung für sie war. Sie durfte nicht die Beherrschung verlieren, aufspringen und schreien. Sie musste an mich denken. Vom ersten Moment an habe ich sie aufrechterhalten.«
Anitas Stimme wurde weicher. Sie lachte auf und zeigte dabei einen kleinen Edelstein in einem Zahn.
»Niklas erwähnte, dass deine Mutter eine Boutique besitzt.«
»Sie gehörte meinen Eltern«, antwortete Anita. »Eigentlich meinem Vater. Meine Mutter hat manchmal ausgeholfen. Aber sie wollte sich vor allem dem Haushalt widmen. Als mein Vater sie verließ, hatte sie nicht einmal den Führerschein. Eine Woche später meldete sie sich zum Fahrunterricht an.«
»Sie muss stark gewesen sein.«
Anitas Tunika war wirklich schön. Der Seidenstoff schimmerte im Kerzenschein.
»Ich habe sie kein einziges Mal weinen sehen«, sagte sie. »Manche Tage vergisst man nie, und der Tag, an dem dieser Anruf kam, war so einer. Ich weiß noch, dass sie sich an den Tisch setzte, meine Hände nahm und mir erzählte, was passiert war. Ruhig. Als ob sie erklärte, mein Vater sei für ein paar Tage verreist, und nicht fürs Leben verschwunden, wie es sich dann zeigte.
Sie hatte
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